Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Sie saß in einem schwarzen Kleid an ebendiesem Fenster und sah, weil sie im Dunkeln saß, wie ein im Raum schwebender bleicher Schädel aus, ohne Körper. Große Augen, die Guido anstarrten, während dieser voller Kraft und ohne sich um sie zu kümmern auf Mami, Papi und Lea einredete, die ihn anstrahlten. Ein einziges Mal sagte sie etwas, unvermittelt und mit einer klaren Stimme. Guido verstummte sofort. Ich verstand nicht, was sie sagte, obwohl sie keinen Dialekt sprach, sondern ein piekfeines Italienisch mit einem Erre lombardo. Guido wandte sich ihr zu, mit einem jäh verdunkelten Gesicht. Er sprach auch italienisch, er im Dialekt. Seltsamerweise wechselte Elsa nun in ein ebenso feines Deutsch ohne jeden Akzent hinüber. Guido antwortete ihr erneut, auch er deutsch; bündnerdüütsch allerdings. »Nein«, sagte er. »Es ist das Beste so.« Alle schwiegen, auch Elsa. Ihr Gesicht war noch weißer geworden, und auch Guido sah plötzlich wie der alte Mann aus, der er ja war. Dann, mit der Stimme von vorhin, nahm er das Gespräch wieder auf, und auch Mami, Papi und Lea schwatzten wieder. – Guido fuhr am nächsten Morgen weg, und Elsa blieb schwarz am Fenster sitzen, den ganzen Sommer über. Sie starb noch in diesem Jahr, oder vielleicht im nächsten.
(WARUM denke ich, zwischen Guido und Lea, die seine Tochter war und von der ich jetzt erzählen will, an die Hälfte des Lebens? »Hälfte des Lebens«? Sie wäre ein kostbarer Augenblick, erkennten wir diesen nur. Aber bei der Hälfte meines Lebens sind wir jetzt noch nicht, und ich, schreibend, bin darüber hinaus. Hälfte des Buchs vielleicht? Ich kenne auch seine Dauer nicht so genau. Immerhin ahne ich inzwischen die Vorzüge und Nachteile meines halsbrecherischen Plans, ausschließlich mit dem Material meines Lebens zu arbeiten. Mit echten Namen, den Erinnerungen an das Wirkliche, und nur mit ihnen. Der Gewinn ist: Ich lebe längst abgelegte Zeiten nochmals, mit bestürzender Heftigkeit. Ich lebe ein zweites Mal. Und jene, die doch längst tot sind, leben auch wieder, zusammen mit mir. Noch einmal die Freude, das Glück und der Schmerz. – Nachteile dennoch: die Gattung selber, die Autobiographie, scheint mir jede große Sprachgeste zu verbieten. Und ich liebe sie doch so, die erhitzte Sprache für den heißen Moment; das Pathos. Hier, angesichts meines Stoffs – das banal schmerzhafte und gewöhnlich-glückliche Leben –, würde sich eine solche Sprache lächerlich machen. Schade.)
JETZT also Lea. Sie kam, gleich am ersten Abend, in unsere Küche gestürmt. Großes Juchzen, Gelächter, Umarmungen. Um genau zu sein: Es war Lea, die juchzte und lachte und umarmte. Meine Mutter, auf die sie zustürmte – »Anita! Che piacere! « –, freute sich auf ihre stillere Weise. Aber sie lächelte und breitete die Arme aus! Lea tanzte mit ihr, die so etwas wie ihre Tante war, durch die Küche, warf sich dann über meinen Vater, der seine Zigarette gerade noch in Sicherheit bringen konnte, und zerdrückte Nora und mich schier. Ich staunte zu ihr hoch, in dieses lachende Gesicht, aus dem die Wörter nur so heraussprudelten. Italienisch, deutsch, gleich geläufig und wild vermischt. Lea schielte. Sie schielte – wie soll ich das formulieren? – absolut. Ein Auge nach Nord, das andere nach Süd. Es war unmöglich zu sagen, ob sie mich ansah oder in die Gegenrichtung blickte. Wahrscheinlich hatte sie ein Gesichtsfeld von 360 Grad. Sofort saß sie an unserm Tisch, mir gegenüber, und kippte ein Glas Hügelwein. (Sie war keine Trinkerin; sie musste einfach den herrlichen Augenblick feiern.) Sie prostete mir zu – » Salute, Orsino!« – und blickte dazu rechts und links an mir vorbei.
Wo Lea war, schien die Sonne heller. Sie hatte ein so großes Talent zur Fröhlichkeit, dass ihr Schielen unsichtbar wurde. Nach der ersten Verblüffung nahm ich es nicht mehr wahr, nie mehr. Niemand, hätte er sie beschreiben müssen, hätte gesagt, dass sie schielte. Sie, die nun tatsächlich keine Schönheit war, wurde von jungen Männern umschwärmt, die einzeln, zu zweit und auch im Pulk in La Rösa auftauchten (Woher? Und wie? Autos hatten sie keine) und sich von Leas Lebenslust so anstecken ließen, dass sie schon alberten, während sie über die Brücke des Poschiavino aufs Haus zumarschierten. Pierino, Luigi, Sandro, Marco, Francesco. Nie allerdings war einer der wirkliche Favorit. Mit dem Lea auch etwas tat, bei dem sie nicht lachte. (Oder war sie eine so gute Komödiantin,
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