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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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dass sie sogar ein zehnjähriges Kind hinters Licht führen konnte?) Pierino vielleicht am ehesten noch, der an der grande curva unten wohnte und bald starb. Krebs, kann sein, dass ich bei Pierino das Wort »Krebs« zum ersten Mal hörte. Ein Tier, das ihn von innen her auffraß, bis er ganz ausgemergelt war. Lea weinte, als sie uns Pierinos Tod berichtete. Aber es gab ja noch Francesco, Marco, Sandro, Luigi. – Sie wohnte im ersten Stock, ihr Schlafzimmerfenster war unter dem diman von diman sarà seren, und zuweilen schaute sie heraus und winkte mir, wenn ich, direkt unter ihr, den Fußball gegen das Garagentor trat. Sie lachte und rief »Bravo«, wenn ich einen besonders scharfen Hammerschuss aufs Garagenholz placierte. Hie und da allerdings schimpfte sie, den Kopf schräg zurückgelegt, zu Delia hinauf, ihrer Schwester, die aus einem Fenster des zweiten Stocks hing und etwas nach unten bellte, was ich nicht verstand. Irgendeinen Vorwurf. Delia, die mit ihrer Schwester immer pusciavin sprach, hatte die Begabung, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Da ün muschit ün elefant, oder so ähnlich. Sie hatte eine Stimme, mit der sie Glas schneiden konnte. Vielleicht war der wunde Punkt dieser ständigen Auseinandersetzungen Elsa, ihre Mutter, um die sich beide kümmerten und die im Salon vor sich hin starb. »Und Schluss mit dem Fußball«, rief Delia, auf Deutsch nun, und fasste mich ins Auge. »Das gibt Flecken. Das weißt du genau. Aber weißt du auch, wer sie dann wieder wegwischt? Du etwa?«
    Sonst aber füllte Lea ganz La Rösa mit ihrer Fröhlichkeit. Sie zwitscherte und sang den ganzen Tag über. Sie sang sogar, in Poschiavo unten, in einem Chor, der Platten machte. Echte Schallplatten, die im Radio gespielt wurden. La Poschiavina war fast noch schöner als La Montanara, so kraftvoll klangen die Bässe und Tenöre und so rein strömten die Sopranstimmen der Frauen, von denen eine die Leas war.
    Dann verdüsterte, von einem Tag auf den andern, ein schwarzer Schatten das Tal und das Leben Leas. Sie hatte einen Mann gefunden oder dieser sie – keine Ahnung, wann, wo, auf welche Weise –, der anders als alle andern war. Kein lustiger Pierino, kein munterer Luigi, kein Witze reißender Francesco. Er hieß Primitivo – echt wahr! – und war so mächtig, dass er sich in den Poschiavino hätte stellen und diesen allein mit seiner Brust hätte stauen können. Er vertrieb die lustigen Liebhaber, vielleicht ohne es zu bemerken. Sie kamen nie mehr. Er wurde Leas Einziger, und sie sah ihn innig an, verliebt, auch wenn ihre Augen die seinen verfehlten. Primitivo hatte so oder so Augen wie Steine. Er sprach wenig, und wenn, dann kurze Befehle, oder Vorwürfe. Lea sauste dahin, dorthin, fraß ihm aus der Hand, den Händen, die Pratzen waren und einem Kaninchen mit einem Handkantenschlag das Genick brechen konnten. Guido vergleichbar – das war aber auch die einzige Ähnlichkeit –, tauchte er unerwartet in La Rösa auf und verschwand ebenso plötzlich wieder. Wenn er da war, hielt das Leben den Atem an. Lea ging auf Zehenspitzen, Mami verschanzte sich in der Küche, und Nora und ich spielten mit zusammengekniffenen Lippen. Nur Papi ignorierte Primitivo und tippte auf seiner Maschine, als sei dies ein Tag wie jeder andere. Primitivo spaltete zuweilen Holz oder polierte an seinem Auto herum, einem Mercedes, den er jeden Frühling gegen einen neuen umtauschte, einen sogenannten Jahreswagen, den er in Stuttgart abholte und dessen Rabattgewinne ihn so stolz machten, dass er sie sogar mir, dem zwölfjährigen Buben, vorrechnete. Der Mercedes, all die Mercedesse waren linksgesteuert, nicht rechts wie Guidos Jaguar. So oder so ließ er sich von Guido nichts sagen. Er war jung genug, um gelassen auf dessen Tod und das Erbe warten zu können, und Guido starb ja auch bald. Vor Primitivo konnte man nur einen Weg wählen, den von ihm weg, und wenn da der Abgrund war. – Ihm haftete immer etwas Gewalttätiges und Illegales an. Keine Ahnung, ob das stimmte. Er war ein Geheimnis. Einmal traf ich ihn unvermutet – ich vermutete nichts, und er sah mich gar nicht – in einem Restaurant (Jahre später, in Poschiavo unten), und er war völlig anders, als ich ihn kannte. Er schien der König des Lokals zu sein, lachte, röhrte, hieb auf Schultern, nahm große Schlucke und aß ein Sandwich mit einem Biss. Zu Hause, in La Rösa, war er immer düster.
    Er verschwand jedes Jahr für ein, zwei Monate auf sein Gut, das eine große

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