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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Abschied merkte sie an, dass die Schuhe da draußen etc., und dass wir Kinder usw. Wir sollten nicht so laut herumrennen und am besten gar nicht atmen. Das sagte sie zu meiner Mutter, nicht zu uns Kindern, die wir mit am Tisch saßen. Sie kannte die Wege der Hierarchie, sie war im Krieg Korporalin oder Leutnant bei den Rotkreuz-Fahrerinnen gewesen und hatte schwere Laster voller Verletzter über Gebirgswege gesteuert. Sie hätte, wäre der Kriegsfall eingetreten. Es gibt ein Foto von ihr, auf dem ich auch drauf bin, ich bin etwa zwei und rolle einen Kohlkopf über einen Kiesweg, und sie steht gütig lächelnd neben mir, mein Tun billigend, in einer schmucken Uniform mit schwarzen Stiefeln. – Auch musste das Brennholz sauberer geschichtet sein, und die Zahnputzgläser durften nicht neben der Spüle stehen. Natürlich, Delia, sagte meine Mutter und räumte schon einmal die Gläser mit den Zahnbürsten weg. Delia nickte und verschwand. Wir begannen den kalten Risotto zu essen oder ordneten unsere Karten zu einem Fächer. Das heißt, Mami schichtete das Brennholz um, während wir andern stumm aßen oder in unsere Karten stierten.
    Delia war die, die, wenn ich um neun Uhr früh mit vom Schlaf immer noch verklebten Augen vor dem Haus vorbeischlurfte, oben aus ihrem Fenster heraus »Na, du Schlafmütze!« rief, lachend und strotzend vor Frische, und es stellte sich heraus, dass sie eben vom Piz Palü oder wenigstens vom Piz Cambrena zurückgekommen war. Halb vier Uhr Abmarsch in La Rösa, halb sieben auf dem Gipfel, zwei Minuten Rast, und dann im gestreckten Galopp wieder nach Hause. An jenem Tag war sie allein unterwegs gewesen. Sie war eine sehr gute Alpinistin, sie hielt sogar mit ihrem Mann mit, Fritz, der ein spektakuläres Palmarès von Erstbesteigungen und 10-Grad-plus-Wänden hatte und mit dem sie heftig rivalisierte. Er nahm es gelassen und machte die schwierigeren Touren mit andern. Er war bei den Sprints auf den Palü nie dabei, er arbeitete den Sommer über in Mailand – er war Chemiker – oder war auf einer Expedition im Himalaya. Er war Instruktionsoffizier bei den Gebirgstruppen, was sonst. So ruhig wie er wollte ich auch einmal werden. Besonnen angesichts schier unüberwindbarer Schwierigkeiten. Nur das Nötigste sagen – und das mit einer Frau, die auch das Unnötigste formulierte! –, das aber eindeutig. Diese ersten Schritte am Berg, auch wenn ein Hüpfen und Springen durchaus möglich gewesen wäre. Aber eben, einer wie er ging dann diese Schritte auch nach zehn Stunden noch, und auf 7900   Meter Höhe. – Ich machte nie eine Tour mit Fritz, ich meine, auch keinen Spaziergang. Mit Delia Dutzende. Es ging früh los, aber nicht so früh wie wenn sie ihre einsamen Gipfelstürme unternahm. Wir machten Kindertouren, auf die Gessi zum Beispiel, einen Kalk- oder Gipsberg, der auf der einen Seite steil abfiel und aus mehreren weißen Gipfelsäulen bestand, die wie Finger in den Himmel ragten. Auf der andern Seite war er eine nicht einmal steile Wiese, auf der so viele Edelweiß wuchsen, dass man eine Sense gebraucht hätte, hätte man sie alle pflücken wollen. Wir steckten uns jeder eins ins Knopfloch, oder ein Männertreu, das auch selten war und wunderbar duftete. Abwärts ging es dann den steilen Kreideabhang hinunter, zwischen den Bergfingern. Wir rutschten und lachten, Kieslawinen mit uns reißend, und standen im Nu, weiß bestäubt, auf dem Fahrweg tief unten, der zur Forcla di Livigno führte. Das war schon schön! – Wir waren auch auf dem Piz Campascio, dem Piz Lagalb (da gab’s noch keine Seilbahn) oder am Lago di Saoseo und am Violasee. Einmal gar auf dem Piz Sassal Masone, dem Palü fast auf Augenhöhe gegenüber. (Nora kriegte einen herabkullernden Stein auf einen Daumen und blutete und weinte.) Mit uns (Mami, Nora und mir also) waren immer Delias Kinder. Reto, Ginggi und zuweilen auch die kleine Wanda. Reto war jünger als ich, Ginggi jünger als Reto (seine Mutter nannte ihn Ginggi, weil er ihr Fußtritte gab), und Wanda war das Nesthäkchen, das schmollte, sich von Delia am Arm schleifen ließ und später, wenn ich das recht sehe, keinen unnötigen Schritt mehr tat. Wir Buben, und mindestens auch Nora, wurden von Delia unablässig angehalten, den Ball am weitesten zu werfen, den Fels am schnellsten zu erklettern und den schwersten Holzklotz in die Höhe zu stemmen. Alles war ein Wettbewerb, bei dem es der Erste zu sein galt. Wir konnten noch nicht einmal einen Apfel in Ruhe essen,

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