Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Hazienda im Norden Spaniens war. (Er war Spanier und sprach fließend Schwyzerdütsch. Italienisch sowieso.) Auch Lea hatte die Hazienda nie gesehen, und mein Vater sagte, es gebe sie gar nicht. Andrerseits schien sie Geld einzubringen, denn etwas anderes – für uns Sichtbares – arbeitete Primitivo nicht.
Einmal war er auf einer Wanderung mit dabei. So etwas war vorher nie geschehen, und es passierte auch später nie mehr. Wir wanderten – oben auf dem Berninapass – dem Lago bianco entlang, dessen milchweißes Wasser direkt aus dem Gletscher stammt, der über ihm hängt. Ich tauchte eine Hand hinein, in so etwas wie flüssiges Eis, und zog sie sofort wieder heraus. Sie war, nach diesen paar Sekunden, starr und fühllos. Primitivo lachte – dieses Lachen, das wie ein Raubtierfauchen klang –, zog sich aus und sprang mit einem flachen Kopfsprung in die Fluten. Lea schrie auf, und Mami, Nora und ich standen sprachlos da. Primitivo kraulte eine Weile lang herum und kam endlich ans Ufer zurück. – Da bewunderte ich ihn. Wie er dastand und sich schüttelte, dass die Tropfen mich nassspritzten. Ein Gottungeheuer mit einem blaugefrorenen Gemächte.
Lea kriegte ein Kind. Jolanda. Sie wurde Leas Ein und Alles – Lea hatte mit ihren beinah vierzig Jahren nicht mehr mit diesem Glück gerechnet – und bald das größte Geheimnis in diesem Rätselhaus. Denn nach wenigen Jahren – ach, eigentlich von allem Anfang an – war Jolanda so verstört, so seltsam, so wund, dass sie mich nicht sah und ich sie scheu anblickte, wenn sie dann doch einmal vor die Tür kam. Ich redete nur wenig mit ihr, sie war ja auch manche Jahre jünger und schien kein Deutsch zu sprechen. Es war ein Glashauch um sie, der sie unberührbar machte. Sie, umgekehrt, war – selbst wenn sie dann doch etwas sagte – abwesend wie ein Besucher, der nur zufällig gerade hier war und eigentlich in eine andere Zeit, in eine andere Welt gehörte. – Lea wurde ein Schatten, der nur noch wenig sprach und noch weniger lachte. – So ging das weiter, Jahr für Jahr. – Kaum war Jolanda so etwas wie bewegungsfähig, verschwand sie. Auch Lea wusste nicht, wo sie war; Primitivo schon gar nicht, vermute ich. Es gab Lebenszeichen aus Südamerika. Brasilien wohl. Sie war endgültig weg, die Heldin oder eher das Opfer eines Albtraums, den sie oder ein anderer träumte und aus dem sie zu fliehen versuchte. Ob erfolgreich, weiß ich nicht.
MEINE Mutter hatte immer – verschiedene Zeiten, andere Orte – einen Menschen, von dem sie sich terrorisieren ließ. Vor dem sie zitterte und dessen hingemurmelte Bemerkungen sie auch dann für Befehle hielt, wenn sie das gar nicht waren. Sie suchte sich aber schon die Geeigneten aus. Solche, die zu herrschen und auch ein bisschen zu quälen wussten. Die Besitzer der Häuser, in denen sie wohnte, alles in allem. Zuerst war es wohl ihr Vater gewesen – ich habe meinen Großvater nicht kennengelernt; er starb vor meiner Geburt; er hatte sich in die Badewanne gelegt und sich die Pulsadern aufgeschnitten; meine junge Mutter fand ihn –, dann wurde es Erwin. Später, als Lückenbüßerin, Madame Schaub. Bald aber und für die restliche Lebenszeit Fräulein Doktor – ich komme auf sie zurück; es ist unvermeidlich –, die seltsamerweise auch Schaub hieß, allerdings deutsch ausgesprochen, und die Besitzerin des nächsten Hauses war. (Franzjoggi hatte schon Schaub geheißen. Ist mein Leben von Schauben begleitet?)
In La Rösa fiel diese Rolle Delia zu. Wie eine Ferienvertretung. Immerhin war sie, nachdem Guido gestorben war, zusammen mit Lea die Besitzerin des Bergpalasts, in dessen Gesindewohnung wir sein durften. Wenn wir zurück in Riehen waren, übernahmen Madame Schaub oder dann bald Fräulein Doktor ihre Funktion erneut und ohne Mühe. Delia tauchte zu den ungelegensten Zeiten in unserer Wohnung auf. Am frühesten Morgen, wenn nur Papi auf den Beinen war und Mami, wie von Nachtmahren gehetzt, aus ihrem Bett schoss und »Ich bin schon da, Deli!« rief. Wenn wir gerade mit dem Essen anfangen wollten oder die Tschau-Sepp-Karten eben verteilt hatten. Sie hatte Zähne wie ein Biber, plauderte, während der Risotto kalt wurde, übers Wetter und dass ihr Auto, ein Fiat 600, hier vielleicht klein wirke, ärmlich, aber auf den italienischen Straßen ideal und den dicken Kisten, wie sie Primitivo oder Loris oder auch Guido führen, weit überlegen sei. Nicht, dass sie sich solch ein Auto nicht auch leisten könnte. Beim
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