Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
Vom Netzwerk:
nach der andern zu schließen und mit einem Obwohl den ersten Nebensatz ein weiteres Mal auf seine Auflösung warten zu lassen und, in diesem Nebensatz im Nebensatz, einige Gegenargumente zu versammeln; endlich mit vollendeter Sicherheit alle frei herumbaumelnden Satzfäden aufzugreifen, zusammenzuknoten und seine Gedanken ohne die geringste Mühe zu einem guten Ende zu führen. Zu jenem finalen nicht , das mich zwang, das Gehörte und halbwegs Verstandene nochmals neu zu bedenken, im Licht der Verneinung diesmal. – Von Karl Barth weiß ich gar nichts mehr. Nicht einmal mehr, wie er aussah. Ich ging ein zwei Mal zu ihm, weil er schon damals eine Legende war. Meine Abwehr gegen alles Theologische war zu groß, als dass ich wirklich zugehört hätte.
    ZU dieser Zeit verbrachte ich mehr oder weniger jeden Abend in der Hasenburg, einem Lokal in der Altstadt von Basel, das weder groß noch klein war, rauchig, lärmig, braun getäfelt, mit langen Holztischen, die schon am Vormittag voller Gäste waren – umso mehr am Abend –, von denen manche den Hut aufbehielten. Männer, vor allem Männer, die einen Durst stillten, den sie mit einer Arbeit erworben hatten, die sie schwitzen ließ. Gastarbeiter aus Italien. Auch ein paar Frauen, nicht viele; zwei, drei, die Rotwein tranken, mit trüben Augen. In der Mitte des Gastraums stand ein Ofen, der im Winter glühend heiß war. Der Schädel eines Wildebers mit mächtigen Hauern ragte aus einer Wand und wachte über uns; über mich: er sah aus, als habe er in der Zeit der Kelten schon hier gestanden, auch damals schon ein Gott oder Dämon, und die Hasenburg sei wie ein Tempel um ihn herum gebaut worden. Auch wir verehrten den Eber und vergaßen nie, ihm zuzuprosten.
    Ich wohnte geradezu in der Hasenburg. Das hing, neben einer Aura heiterer Anarchie, die dem Lokal eigen war und die mich anzog – alles schien mir möglich, nach einem halben Liter Féchy jedenfalls –, damit zusammen, dass ich es kaum mehr aushielt, meine Abende zu Hause zu verbringen, wo meine Mutter mit einem Gesicht aus Stein die Treppen hinauf- und hinunterrannte und mein Vater bis etwa halb zehn in seiner Schreibhöhle verborgen blieb – das Geklapper seiner Maschine zeigte an, dass er noch am Leben war – und sich dann, mit einer, weil er hämmernde Kopfschmerzen hatte, tiefen Falte in der Stirn und erschöpften Augen daran machte, ins Bett zu gehen. Gutenachtkuss, aus. Meine Mutter war dagegen nie ins Bett zu kriegen. Oft war sie, auch wenn ich lange nach Mitternacht nach Hause kam, noch immer in der Küche und putzte das von ihren Eltern geerbte Silberbesteck. Ich kam aus der Dunkelheit und sah sie durchs Glas der Küchentür, bevor sie mich sehen konnte. Sie saß bewegungslos da, mit einem Lappen in der stillen Hand. Nur ihre Lippen zitterten. Ich stand, starr auch ich. Ach, meine Mutter! Ich klopfte ans Glas. Sie fuhr zu Tode erschrocken in die Höhe, obwohl sie wusste, dass ich es war, dass nur ich es sein konnte. Mein Klopfen hatte sich trotzdem mit dem Echo eines archaischen Pochens vermischt, das in ihr drin lebte und für etwas Bedrohlicheres stand, als es der heimkommende Sohn war. Sie öffnete mir die Tür. Ich ging, »Danke!« murmelnd, so entschieden an ihr vorbei, dass sie kein Gespräch beginnen konnte. Ja, ich blieb ja überhaupt nur so lange in der Hasenburg, um sie nicht mehr anzutreffen. Heute zerreißt es mir das Herz, wenn ich an die Augen denke, mit denen sie mich ansah. Damals wollte ich nicht verstehen, dass sie um Hilfe flehten. »Gute Nacht!«, rief ich, schon auf der Treppe. Ich polterte die Stufen hoch und ging erst auf den Zehenspitzen, wenn ich an der Tür zu Papis Zimmer vorbeikam. Ich hielt für einen Moment inne, hörte nichts, ging dann in meine Mansarde und ins Bett. – Auszuziehen wagte ich nicht, ich hatte kein eigenes Geld und war ja der Kitt oder eher der schützende Puffer zwischen Mama und Papa; ohne mich, dachte ich, überlebten die beiden keine zwei Wochen; und Nora war längst nach Genf ausgerissen, wo sie bei Piaget Psychologie studierte.
    Der Wirt der Hasenburg war der alte Grieder, der in seiner winzigen Küche allein für das ganze Lokal kochte (Leberli mit Röschti, in der Hauptsache). Er blieb unsichtbar, tauchte nur hie und da wie ein als Koch verkleideter King Kong im Lokal auf und rief, ohne einen bestimmten Gast anzusprechen und ohne eine weitere Begründung, was das hier für ein Sauladen sei. Dann verschwand er wieder. Ich habe ihn nie lachen

Weitere Kostenlose Bücher