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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Lehrbeauftragte für französische Alltagssprache, und ich saß in ihrem Kurs. Sie kam zur Tür des Hörsaals herein, sagte Bonjour, und ich war ihr verfallen. Trotzdem hätte ich sie vielleicht nie angesprochen – ein Mitglied des Lehrkörpers! –, wenn wir nicht bald einmal an einer Art Party, irgendetwas Offiziellem mit einem gemütlichen Teil, aneinandergeraten wären. Sie trug jetzt etwas eher Formelles, das kleine Schwarze vielleicht, und ich hatte mir eine Krawatte umgebunden. Dies academicus? Der siebzigste Geburtstag von Walter von Wartburg? Jedenfalls, wir trennten uns während des ganzen Abends nicht voneinander – um uns herum Party-Gewoge – und redeten ohne Unterlass. Immer wussten wir etwas zu sagen und schwatzten zuweilen gleichzeitig. Wir lachten viel.
    Nun brannte ich lichterloh. Wir schliefen an diesem ersten Abend nicht miteinander; aber am nächsten oder am überübernächsten. Wir waren in der Bayrischen Bierhalle gewesen (Brigitte, obwohl eine Frau und Französin, trank lieber Bier als Wein) und gingen, beide wissend, was wir wollten, zu ihr nach Hause. Aber es war dann eher ein Wälzen und Zerren und Stoßen als jener triumphale Sturm dem Gipfel entgegen, den ich in Montpellier kennengelernt hatte. Als wir nebeneinanderlagen, drehte sich Brigitte zu mir hin und fragte: »Contento?«
    »Und du?«, sagte ich.
    »Contentina«, sagte sie.
    Sie setzte sich auf, zündete sich eine Zigarette (Camel) an und sagte, ja, sie sei bis vor kurzem noch mit einem Mann zusammen gewesen. Er sei weggegangen, ohne adieu zu sagen. Einfach so. Sogar das Rasierzeug habe er dagelassen. Sie sagte mir seinen Namen, irgendein Tier. Wolf, Bär oder Has. Er habe sie Tag und Nacht mit seiner selbstgewissen Gewalt überschwemmt, und sie habe sich ihm bedingungs- und grenzenlos hingegeben. Sie drückte ihre Zigarette (Camel) aus und stieg in ihre Jeans. Auch ich rappelte mich hoch. Noch immer, sagte Brigitte, fülle das Erlebte ihren Kopf und ihre Sinne.
    Ich loderte trotzdem weiter. Es war ja auch schwer, nicht in Brigitte verliebt zu sein. So viel Schönheit und Witz. Auch der Has oder Wolf oder Bär war ihr ja wohl erst einmal verfallen gewesen, vor seinem groben Abschied. Sie hatte ein Gesicht des Südens. Braune Augen, eine römische Nase, schwarze Haare. Sie war groß, vielleicht gar eine Daumenbreite größer als ich. Sie mochte mich ja auch, fand mich manchmal regelrecht liebenswert, und dann gingen wir eben zu ihr nach Hause oder, eher noch, Hand in Hand durch Parks und Wälder und redeten. Redeten und redeten. Zuweilen drückte ich sie gegen einen Baumstamm und küsste sie. Sie küsste durchaus zurück, heftig zuweilen gar. Aber dann gingen wir weiter und redeten erneut. (Einmal waren wir in einem Forst irgendwo im Elsass, hinter Hagenthal-le-Bas oder Muespach-le-Haut. Wir gingen und redeten wohl ein bisschen mehr als üblich, noch mehr!, nahmen die Abzweigung und jene, ruhten vielleicht gar ein halbes Stündchen im Moos und fanden, als wir endlich nach Hause wollten, die Vespa nicht mehr. [Ich hatte eine neue alte Vespa.] Sie war vom Wald verschluckt worden. Wir durchstöberten jedes Gebüsch. Schließlich fuhren wir per Autostopp nach Basel. [Ein freundlicher Bauer, der uns zur Grenze brachte, obwohl er ein paar Kilometer vorher zu Hause gewesen wäre.] Es war schon dunkel, als wir ankamen. Ein Kuss unter der Haustür. Ich fuhr dann – wie?, mit wem? – am nächsten Tag an den Tatort zurück und fand die Vespa auf Anhieb in genau dem Gebüsch, in das ich sie gelegt hatte.)
    Brigitte wollte durchaus lieben, tat es dennoch zögernd, als wolle sie lieben und wolle es doch nicht. Ich küsste sie mit dem Feuer des Verliebten und wurde erst weniger hitzig, wenn ich spürte, dass ihre Küsse nicht so heiß wie meine waren. Ihre Beine, sie presste die Knie nicht immer gegeneinander; aber zuweilen schon. Es lag eine seltsame Melancholie über ihrem Lieben, eine schwarze Trauer, die sie zuweilen so überschwemmte – dann war es mit dem Lieben aus –, dass ich mich heute frage, wieso ich nie an der Wahrheit ihrer Geschichte mit dem wilden Hasen zweifelte. Dass es mit ihm die lautere Leidenschaft war. Konnte sie mit ihm wirklich ganz anders gewesen sein? Aber nein, ich nahm – obwohl da keine war – alle Schuld auf mich und dachte, ich sei der Verklemmte. (Ich war ja auch, mit ihr, ein Verklemmter.) Ich wollte es jedes Mal besser machen. Es war just ihre Traurigkeit (dabei: was konnte sie lachen), die mich immer

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