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Remember

Remember

Titel: Remember Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Jungbluth
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zu leuchten.
    Annabel wurde abgelenkt, als der Mann unter dem Tisch plötzlich anfing, unglaublich schnell und unaufhörlich einen Kinderabzählreim vor sich hin zu murmeln. »Ene mene ming mang ping pang hose pose ackadeia eiadweia weg. Ene mene…« Dabei kratzte er mit den Fingernägeln über den Boden, sodass sich langsam feine Scharten bildeten. Es tat ihr schon vom Zusehen weh.
    Dann erst bemerkte sie, dass Michael und Eric wieder ihre Plätze eingenommen hatten, und sie setzte sich dazu.
    Michael schien ganz der Alte. Er aß sogar noch ein paar Bissen von seinem kalten Fisch. Vielleicht war dieser Wutausbruch einfach mal nötig gewesen, dachte Annabel. Und vielleicht sollten sie alle seinem Beispiel folgen, damit sie nicht irgendwann platzten.
    Sie schenkte Michael ein schüchternes Lächeln und wäre vor Freude beinahe an die Decke gesprungen, als er es erwiderte. – Nein, er hasste sie nicht.
    »Ich kann nicht fassen, dass sie April Fay verlegt haben«, sagte Eric und durchbrach die Stille am Tisch. »Sie hätte uns bestimmt weiterhelfen können.«
    »Oder sie hängt da mit drin«, sagte George und schaute von seinem Teller auf. Seine braunen Haare sahen fettig und strähnig aus, so, als hätte er sich seit ihrem Aufenthalt in der Anstalt nicht einmal gewaschen.
    »Glaub ich nicht, George. Sie sah mir eher wie ein Opfer aus. Aber wenn das, was sie gesagt hat, wirklich einen Sinn ergibt, dann müssen wir uns doch fragen, was der Rest zu bedeuten hat.«
    »Meinst du das mit den acht Tagen, Michael?«
    »Sieben, Eric.«
    »Was?«
    »Es sind nur noch sieben Tage.«
    »Ich kann auch zählen, George.«
    »Sicher, Eric.«
    »Was ist in sieben Tagen?«, fragte Annabel. »Irgendein Feiertag?«
    »Nein, nicht dass ich wüsste«, sagte Michael.
    »Nicht auf diesem Planeten.«
    »Mensch, nicht jetzt, Eric!«, maulte Annabel, die nicht in der Stimmung war für seine Scherze.
    Eric schnappte sich blitzschnell den Pudding von Annabels Tablett. Sie schaute ihn giftig an.
    »Hey, du isst ihn doch sowieso nicht mehr. Und ich liebe Pudding, musst du wissen.«
    Michael warf Eric seinen Pudding zu. »Hier, Kumpel. Hältst du dafür mal die Klappe?«
    Eric riss sofort beide Becher auf und mampfte mit angesäuertem Gesichtsausdruck das süße Zeug in sich hinein. »Gott, erst Michael, jetzt auch noch du, Anna. Ihr beide zickt hier rum wie ’n Rudel Klemmschwestern.«
    Annabel verstand nicht genau, was er damit meinte. Aber sie konnte nicht anders, als Michael anzugrinsen. Und dem ging es offenbar genauso.
    Egal wie nervig Eric auch manchmal war, er hatte ein Talent dafür, eine Situation zu entspannen, absichtlich oder nicht. Und deshalb konnte Annabel ihm auch nie lange böse sein, egal, was für einen Stuss er redete. Sie wollte ihn gerade noch ein wenig anzicken, als sie durch einen dumpfen Schlag gegen eines der Fenster aufgeschreckt wurde. Sie riss ihren Kopf herum. »Habt ihr das gehört?«, fragte sie.
    »Ja. Wahrscheinlich ein Vogel, der gegen die Scheibe geflogen ist«, sagte Michael.
    Die Fenster, schwirrte es durch Annabels Kopf. Ein unscharfer, konturloser Gedanke, der versuchte, Gestalt anzunehmen. Die hübschen bunten Fenster.
    »Der hat es wenigstens hinter sich«, murmelte George.
    Sie waren nicht die Einzigen im Raum, die es gehört hatten. Der Mann unter dem Tisch war auf einmal verstummt und einige der Patienten sahen für einen Moment zu den Fenstern hin, wandten sich aber gleich wieder ab. Der Junge mit dem eingefrorenen Lächeln stellte sich auf einen Stuhl, schaute hoch zur Decke und bewegte die Arme auf und ab wie ein Paar Flügel. Nachdem Annabel ihm sekundenlang zugeschaut hatte, glaubte sie, sogar den Wind und das Flügelschlagen zu hören.
    »Anna? Ist irgendwas?«
    Annabel hörte Michaels Frage, aber sie war nicht mehr in der Lage, ihm zu antworten.
    Manchmal erzählen sie eine Geschichte. Wie in einer Kirche.
    Der Aufenthaltsraum war, wie immer um die Mittagszeit, gut besucht und der Geräuschpegel entsprechend hoch. Doch plötzlich hatte Annabel das Gefühl, als würde jemand die Lautstärke im Raum nach unten drehen, wie bei einem Radio, so weit, bis alles um sie herum nur noch ein undeutliches Raunen war. Es schien, als würde ihr eigener Körper sie dazu zwingen, sich nur noch auf eine Sache zu konzentrieren: die Fenster.
    Und endlich sah sie es.
    Sie erzählen eine Geschichte. Und sie war schon immer da gewesen. Direkt vor meinen Augen. Ich muss blind gewesen sein.
    Aber das konnte nicht sein.

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