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Remember

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Titel: Remember Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Jungbluth
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und sie setzten den Spaziergang fort.
    »... siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig…«
    »Darf ich fragen, was du da zählst, Annabel?« Der Doktor sah sie interessiert an.
    »Oh, hab ich es laut getan?«
    »Ja, schon zweimal. Wenn du nicht darüber reden willst, ist das aber in Ordnung. Ich bin nur neugierig. Berufskrankheit, weißt du?«
    Annabel war es peinlich, aber sie hatte nicht das Gefühl, damit ein großes Geheimnis preiszugeben. »Manchmal zähle ich meine Schritte. Ich weiß nicht, wieso. Vielleicht, weil ich nervös bin. Es geschieht ganz automatisch. Und eigentlich mache ich es auch nicht laut.«
    »Und du hast keinen Schimmer, warum du es tust?«
    »Kein Schimmer ist zwar nicht der Terminus, den ich verwenden würde, Dr. Parker. Aber wenn Sie mich so direkt fragen, würde ich sagen, ich habe keinen blassen Dunst.«
    Dr. Parker lachte. »Du bist sehr schlagfertig, das muss ich dir lassen.«
    »Danke.«
    »Weißt du, es gibt einige Menschen, die an sogenannten Zwangshandlungen leiden. Zwanghaftes Händewaschen zum Beispiel. Aber im Grunde kann jede Handlung zur Zwangshandlung werden. Im schlimmsten Fall kann es so weit gehen, dass der Zwang den Menschen völlig vereinnahmt und er den Großteil seiner Zeit damit verbringt, diese Zwangshandlungen auszuführen. Solche Leute leiden sehr darunter. – Zählst du ständig?«
    »Nein. Eigentlich nur, wenn ich irgendwo bin, wo ich noch nicht war.«
    »Und wenn du an einen Ort kommst, den du kennst?«
    »Dann brauch ich es nicht mehr.«
    »Das ist überaus interessant.«
    Überaus interessant. Irgendwie machte Annabel dieser Kommentar wütend. Sie nahm ihm nicht ab, dass er hinter ihrer Zählerei nicht bereits ein weiteres schwerwiegendes Symptom vermutete. Und wieso auch nicht? Schließlich würde sie genauso aufhorchen, wenn eine ihrer Freundinnen plötzlich ohne Grund anfangen würde, laut zu zählen. Wer tat denn so etwas? Offensichtlich nur jemand, der nicht mehr alle Latten am Zaun hatte.
    »Mach dir mal nicht zu viele Sorgen«, sagte der Arzt. »Ich hab dich inzwischen ein bisschen kennengelernt und kann mir nicht vorstellen, dass das Zählen in deinem Fall ein pathologisches Symptom ist.«
    Na toll. Könnte ich das schriftlich haben?
    Annabel holte tief Luft, sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Die Jungs waren darauf angewiesen, dass sie ihre Rolle spielte.
    Sie waren mittlerweile am Ende der Auffahrt angelangt und standen vor einem großen schmiedeeisernen Tor. Es wurde flankiert von einer etwa vier Meter hohen Mauer, die das gesamte Grundstück umschloss. Annabel konnte ein Straßenschild erkennen: Park Lane.
    »Du bist nicht dumm, Annabel. Du hast sicher schon sehr klare Vorstellungen davon, was du später mal werden willst, oder?«
    »Ich möchte Künstlerin werden. Malerin.«
    »Ah, ein freier Geist. – Ja, das passt zu dir. Weißt du, wenn das mit der Kunst nichts werden sollte, ich könnte mir dich auch gut in meiner Branche vorstellen. Du hast ein gewisses Talent.«
    »Als Irrenarzt? – Verzeihung. Das ist wahrscheinlich auch nicht der korrekte Terminus.«
    Dr. Parker musste wieder lachen.
    Sie verließen den Kiesweg und schlenderten weiter links an der Mauer entlang. Immer wieder mussten sie stattlichen Bäumen ausweichen, deren Äste vereinzelt über die Mauer ragten.
    Plötzlich blieb Dr. Parker stehen, drehte sich um und betrachtete das Haus. Sein Gesicht nahm einen sonderbaren Ausdruck an. »Du wolltest wissen, was geschehen könnte. Leider kann ich es dir nicht sagen. Weißt du, dieses Haus ist voller Menschen, die die Hoffnung schon vor langer Zeit aufgegeben haben. Du denkst vielleicht, es liegt daran, dass dies eine Anstalt ist. Aber das ist nicht der Grund. Ich kenne viele Häuser wie dieses. Häuser, die genauso traurig und einsam sind. Man findet sie in jeder Stadt, überall auf der Welt. Es werden immer mehr. Und obwohl sie weder Mauern noch Gitter besitzen, sind die meisten Menschen nicht in der Lage, aus ihnen zu fliehen. – Also, was immer auch passiert, Annabel, verliere niemals die Hoffnung. Das ist wichtiger als alles andere.«
    Annabel wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sollte dieser düstere Vortrag ihr etwa Mut machen? Das klang für sie viel zu dramatisch, als dass es ernst gemeint sein könnte. Daher sagte sie das Erste, das ihr in den Sinn kam. »Das erzählen Sie wohl allen Patienten, was, Doktor?«
    »Nein.« Er grinste. »Nur den echten Nervensägen. – Komm, ich zeig dir noch den Rest

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