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Remember

Remember

Titel: Remember Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Jungbluth
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Westteil durchquert hatten und wieder an der Haupttreppe angelangt waren, verließen sie das unterirdische Labyrinth. Sie waren sich einig, dass es unmöglich und wahrscheinlich auch Zeitverschwendung war, hier unten alles abzusuchen. Nicht einmal die Aussicht, zufällig den Hauptstromschalter zu finden, war für sie verlockend genug.
    Nun gab es nur noch einen Ort, von dem sie sich etwas erhofften: die Verwaltung. Sie befand sich im östlichen Teil des Erdgeschosses.
    Als sie vor der Tür standen und Michael den Knauf drehte, rechnete Annabel damit, dass der Raum genauso verschlossen sein würde wie Dr. Parkers Zimmer. Aber zu ihrer Verwunderung schwang die Tür auf.
    Annabel blickte in ein ganz normales Büro. Zwei große Fenster, zwei Schreibtische, an den Wänden Regale mit Ordnern und auf der Fensterbank ein einsamer Topf mit himmelblauen Vergissmeinnicht. Sie fragte sich, ob die Auswahl der Blumen Zufall war. Sie steckte einen Finger in die Blumenerde. Sie war feucht.
    Zwischen zwei Regalen befand sich eine unscheinbare Tür. Patientenakten war auf einem kleinen Plastikschild zu lesen. Der Raum dahinter war schmal und ohne Fenster. Eine lange Reihe grauer Metallschränke stand an einer Wand, die Schubladen alphabetisch gekennzeichnet.
    Annabel wählte willkürlich zwei davon aus und zog sie auf. Sie waren voller Hefter und dünner Ordner. Keine Kulisse!, schrie eine Stimme in ihrem Kopf. Keine Kulisse! Lauf weg! Annabel blieb und stellte sich vor die Schublade, die möglicherweise ihre Akte enthielt. Michael und Eric taten das Gleiche.
    Annabel atmete tief durch. Der Gedanke, dass es hier echte Unterlagen und somit brauchbare Informationen über sie und ihre Familie geben könnte, brachte neue Hoffnung, aber leider auch neue Ängste mit sich.
    Mit feuchtkalten Händen öffnete sie die Schublade.
    Michael war der Erste, der seine Akte fand. Sie war aus dünner weißer Pappe und sein Name stand vorne drauf. Er legte sie vor sich auf den Schrank und schlug sie auf.
    »Lasst es«, sagte er wenige Sekunden später mit gespenstisch monotoner Stimme. »Schaut sie euch nicht an.« Er klappte die Akte zu, legte sie zurück in die Schublade und verließ mit gesenktem Kopf den Raum.
    »Michael?«, rief Annabel ihm hinterher. Sie hielt noch ihre ungeöffnete Akte in der Hand.
    »Hör auf ihn, Anna. Tu es nicht. Schau nicht hinein.« Eric saß gegen den Schrank gelehnt auf dem Boden und starrte vor sich hin.
    Annabel ignorierte die Warnungen. Sie hatte sich längst entschieden. Sie schlug die Akte auf und es war, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. Ihre Augen, die sich mit Tränen zu füllen begannen, flogen über den Text auf der ersten Seite. Abschließende Diagnose stand da und darunter las sie Begriffe wie Schizophrenie, paranoide Wahnvorstellungen und medikamentöse Langzeittherapie. Doch das waren nur Worte. Das, was ihr wirklich die Kehle zuschnürte, war das, was mit einer silberfarbenen Büroklammer oben auf dem Blatt befestigt war.
    Annabel verlor die Kontrolle über ihre Hände und die Akte mitsamt ihrem Inhalt fielen zu Boden. Wie eine Betrunkene wankte sie hin und her, hielt sich mit Mühe am Schrank fest.
    Zu ihren Füßen lag die geöffnete Akte und inmitten von handgeschriebenen Notizen und maschinengetippten Befunden lag ein kleines Foto. Es zeigte einen hübschen, gepflegten Garten mit Apfelbäumen und einer Kinderschaukel. Und auf dem Rasen, auf einer Decke, saß Annabel fröhlich lachend vor einer Geburtstagstorte mit vierzehn brennenden Kerzen. Ein Mann und eine Frau saßen hinter ihr und hatten die Arme um sie geschlungen. Auch sie lachten.
    Es waren die Leute, die Annabel vor sieben Tagen in der Anstalt besucht hatten.
    Hätte sie in dem Moment nicht Erics Schluchzen gehört, wäre sie wohl zusammengebrochen. Doch anstatt sich in eine dunkle Ecke ihres nach Hilfe schreienden Verstandes zurückzuziehen, konzentrierte sie sich auf die Trauer ihres Freundes, um ihre eigene zu verdrängen. Annabel setzte sich neben Eric auf den Boden und schmiegte sich dicht an ihn. Sie fragte ihn nicht, was er auf dem Foto gesehen hatte. Sie wusste es. Sie wollte ihm sagen, dass alles nur eine Lüge, dass nichts von dem, was sie auf den Fotos gesehen hatten, real wäre. Sie wollte ihm sagen, dass dieselben Leute, die das Wetter verändert hatten, auch dafür verantwortlich waren. Sie wollte ihm sagen, dass sie nicht verrückt waren und dass sie noch immer fest daran glaubte, dass alles wieder gut

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