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Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Titel: Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilkka Remes
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hinter die Bedeutung dieser Worte zu kommen. Sylvia hatte den Satz zuvor schon einmal gesagt. Wann und in welchem Zusammenhang? In der Innenstadt von Kotor, als sie über die Uranmunition sprachen. Christian hatte gesagt, achtzigtausend westliche Soldaten hätten unter den Auswirkungen der eigenen Munition gelitten. In welcher Straße waren sie gewesen, als sie darüber sprachen? Befand sich die Kassette in jener Straße? Im Haus mit der Nummer 80? Oder in einem Bankschließfach in Kotor mit der Nummer 80? Nein, sicherlich nicht in einer Bank und wahrscheinlich auch nicht in einem normalen Wohnhaus.
    Christian dachte fieberhaft nach. Sie waren am Busbahnhof vorbeigegangen, neben einem Bus hatten junge Männer gestanden. Befand sich die Kassette am Busbahnhof? Wo dort? Im Schließfach Nummer 80? Das schien denkbar. Sylvia war intelligent. War es gewesen . . . Immer wieder bemächtigte sich Sylvias Selbstmord seiner Gedanken. War die Kassette tatsächlich so wertvoll, dass man sich ihretwegen das Leben nehmen konnte? Oder hatte Sylvia vor ihrem Entschluss etwas Neues herausgefunden? Christian hatte Hochachtung vor ihr, aber war eine solche Heldenhaftigkeit wirklich nötig gewesen? Heldentum passte nicht recht in die moderne Welt. Neben Sylvia kam sich Christian klein und hilflos vor.
    Gegen seine Gefühle war er machtlos, und er ließ den Kopf zwischen die aufgeschürften, mit Rost befleckten Hände sinken und die Tränen auf die kalten Ziegelsteine fallen. Gewaltsame Schauer erschütterten seinen Körper, aber er schleppte sich trotzdem mühsam weiter.
    Plötzlich schärfte er sein Gehör. In der Ferne hörte man ein wimmerndes Geräusch, das stärker wurde, abbrach und dann von neuem einsetzte, wie das Wimmern eines Rieseninsekts. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und robbte weiter, musste aber nach wenigen Metern erschrocken innehalten. Der Schacht führte nun beinahe senkrecht nach unten. Christian starrte in die Tiefe und spürte das Schwindelgefühl spiralartig seinen ganzen Körper erfassen. In seiner verkrampften Haltung geriet er fast aus dem Gleichgewicht und krallte sich unwillkürlich fester an die Ziegelsteine, in der Angst, abzustürzen. Zehn Meter weiter unten sah er einen kleinen Lichtfleck.
    Er spannte die Muskeln an und bewegte sich ein Stück zurück. Eine einzige falsche Bewegung, und er würde hinabfallen. Das wimmernde Geräusch war immer deutlicher zu hören, doch wo es herkam, war ein Rätsel. Dann aber ging ihm auf, was dieses Geräusch verursachte: ein Gabelstapler. Kleine Lagergabelstapler mit Elektromotoren wimmerten so.
    Er hatte zwei Möglichkeiten. Er konnte umkehren und einen anderen Weg probieren oder hinabsteigen und nachsehen, was dort unten vor sich ging. Die zweite Option schien tollkühn und gefährlich. Die Killer würden damit jedenfalls nicht rechnen. Aber würde er notfalls wieder nach oben kommen?
    Vorsichtig rutschte er wieder bis an die Stelle vor, wo der Schacht steil abfiel, suchte mit Händen und Füßen Halt an den Backsteinen und ließ sich behutsam einen halben Meter hinunter. Dann probierte er, wie gut das Zurückklettern funktionierte. Mit zitternden Muskeln bewegte er sich nach oben.
    Er stieß mit dem Rücken gegen Unebenheiten in der Ziegelwand und riss sich die Hände auf, aber davon ließ er sich nicht beirren. Ohne Scheu drückte er mit aller Kraft die Handflächen gegen die Ziegelwände, den brennenden Schmerz ignorierte er. Er brauchte festen Halt. Jede Unachtsamkeit hätte fatale Folgen.
    Es kam ihm übermäßig schwer vor, auf diese Weise nach unten zu klettern, bis er merkte, dass er die Schuhsohlen gegen die Wand pressen konnte. Das entlastete die Muskeln etwas. Aber würden seine Kräfte ausreichen, um eine so lange Strecke wieder nach oben zu steigen?
    Allein der Gedanke an Sylvia erfüllte ihn mit Schuldgefühlen und Scham. Natürlich würde er es schaffen. Sylvia hatte ihm den Weg vorgegeben, indem sie ihr Leben geopfert hatte. Ein Opfer war eine heilige Handlung, eine Sühne. Vielleicht wollte Sylvia etwas sühnen durch ihren Selbstmord, vielleicht war sie gar nicht so selbstlos gewesen. Aber das verringerte nicht den Wert ihrer Tat.
    Vorsichtig stieg Christian weiter nach unten. Immer wieder musste er innehalten und Kräfte sammeln, bis er feststellte, dass er für das Innehalten ebenso viel Kraft aufwenden musste wie für das Hinabsteigen. Er spürte den Wunsch, aufzugeben. Er hatte schlicht und einfach keine Kraftreserven mehr,

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