Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug
sie sich auch vorstellen sollen, von einem Flugzeugunglück betroffen zu sein? Sara musste sich eingestehen, dass sie selbst sich ebenfalls als unverwundbares, vom Glück begünstigtes Wesen betrachtete. Bei vielen Tauchgängen war sie unnötige Risiken eingegangen. Unfälle passierten immer anderen, gesichtslosen Opfern. Würde sie sich auch irgendwann fragen müssen: Warum gerade ich?
Im Gewürzregal herrschte die gleiche Ordnung wie überall sonst in der Küche. Sämtliche Etiketten waren peinlich genau nach vorne ausgerichtet. Sara graute vor einer solchen Genauigkeit. Die Eigenschaft der peniblen Staubwischerin passte überhaupt nicht zu Tinas italienischer Abstammung. Dieser Widerspruch störte Sara zusehends.
Sie machte die schwere Tür des altmodischen Kühlschranks auf. Gähnende Leere. Nur eine Eierschachtel, Majonäse, eine Dose Oliven und Ketchup. Ganz hinten auf dem Gitter war eine Halbliterpackung Sahne zu erkennen. Wie hatte Tina so etwas Verderbliches im Kühlschrank vergessen können? Sara streckte die Hand nach der Packung aus. Sie war seltsam leicht. War da überhaupt Sahne drin? Sara schüttelte die Packung leicht. Es raschelte merkwürdig gedämpft. Sie öffnete die gefalteten Papplaschen und spähte hinein. In der Packung steckte eine Audiokassette. Sara nahm sie heraus und hielt sie sich vor die Augen. Auf dem Etikett der Kassette stand in Tinas Handschrift: »Julia«. Saras Neugier war geweckt. Warum war die Kassette so sorgfältig versteckt worden?
Sie schob ihren Fund in ihren kleinen Lederrucksack und ging ins Wohnzimmer zurück. Wahllos drehte sie einige Bilder um, nur um Tinas Pinselstrich zu sehen. Sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen, als sie ein breitformatiges Gemälde betrachtete, auf dem es in der klaffenden Wunde eines schon halb abgefressenen Wolfskadavers von kleinen weißen Würmern wimmelte. Sara ließ das Bild an seinen Platz zurückfallen. Es war sonderbar, dass der schreiende Schmerz, der auf Tinas Bildern zum Ausdruck kam, in ihrem persönlichen Auftreten oder in ihrer Art, mit anderen Menschen zu reden, überhaupt nicht zu Tage trat. Wer Tinas Gemälde sähe und dann in einem anderen Zusammenhang die Malerin selbst, könnte die Frau auf keinen Fall mit der Kunst in Verbindung bringen. Die Werke schienen einfach nicht zu Tinas heiterem Gemüt zu passen. Sara hatte Tina einmal gefragt, was sie mit ihren Bildern ausdrücken wolle, aber keine Antwort erhalten. Dabei sprachen Künstler eigentlich immer gern über ihre Arbeit.
Die Gemälde und die unklaren Motive für Tinas düstere Kreativität ließen Sara Mitleid mit Christian empfinden, der nicht gewusst hatte, auf was für ein Wagnis er sich bei der Frau eingelassen hatte. Sara ging ins Schlafzimmer zurück, wo erneut ihre Eifersucht herausgefordert wurde.
Sie öffnete eine Schublade der Kommode und nahm das Kuvert eines Fotoladens heraus, das einen Stoß Fotos enthielt. Mit schlechtem Gewissen öffnete sie das Kuvert und sah sich die Bilder an. Ihre Augen wurden dabei immer schmaler. Tina mit ihrem perfekten Körper oben ohne am Strand, Christian im Wasser, groß, schlank und lachend, Tina im Sand, Tina auf einem Baum, Tina sitzend, Tina liegend. Sara steckte die Bilder ins Kuvert zurück und warf es in die Schublade, wo in einer Ecke ein Stapel Unterlagen verschiedener Art lag, darunter auch eine Fotokopie des amerikanischen Passes von Tina Carabella. Das Passbild war alt, Tina sah darauf wesentlich rundlicher und ungepflegter aus als heute. Das hob Saras Laune ein klein wenig. Sie faltete die Kopie zusammen und schob sie zu der Kassette in ihren Rucksack. Sie wollte die Schublade schon schließen, da fiel ihr ein Briefumschlag auf, der mit einem Absenderstempel versehen war: JEAN D. PREVERT, FACHARZT FÜR GYNÄKOLOGIE, 12
RUE LECERF, 06400 CANNES. Sara zögerte einen Moment, aber dann öffnete sie den Umschlag und las das Schreiben.
Tina war schwanger.
Sara schluckte. An das ärztliche Attest war ein Zettel mit Tinas Handschrift geheftet: »Christian, es sieht aus, als würde ein Brück jr. in mir heranwachsen...« Das Schreiben der Nachricht war offenbar unterbrochen worden. Sara legte den Brief zurück und wusste eine Weile nicht, wohin sie sich wenden sollte. Sie war erschüttert. Schließlich beschloss sie, sich noch im Bad umzusehen. Steinboden mit Wabenmuster, cremefarbene Kacheln an den Wänden, zwei offene Regale. Der Zahnputzbecher war leer, aber Sara stellte sich darin zwei aneinanderlehnende
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