Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug
der Gedanke an aufgereihte Leichensäcke löste schieres Entsetzen in Christian aus - von der Vorstellung, die Toten identifizieren zu müssen, ganz zu schweigen.
Plötzlich bereute er aus tiefstem Herzen, Sara gebeten zu haben, Tinas Wohnung aufzusuchen. Denn durch den Zweifel, den Sara gesät hatte, war seine Fantasie erst richtig in Gang gekommen. Je mehr er sich über Sara ärgerte, umso unbedingter liebte er Tina.
Ein bitterer Kloß setzte sich in seinem Hals fest. Er dachte an den Moment zurück, in dem er Tina zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte Sara in Cannes besucht, nachdem sie für die Zeit ihres Sommerjobs zu Tina gezogen war. Christian war die Stufen des alten Hauses hinaufgestiegen und hatte die schnarrende Türklingel betätigt. Am Türrahmen war mit Klebestreifen ein Zettel befestigt gewesen, auf dem in außergewöhnlicher Handschrift der Name Carabella gestanden hatte. Ein faszinierender Name, hatte Christian gedacht: cara bella die liebe Schöne. Die Tür wurde von einer Person geöffnet, deren Erscheinung ihrem Namen voll entsprach: eine sinnliche Künstlerin mit zarten Gesichtszügen. Trotz ihres Aussehens hatte sie sich jedoch benommen wie eine lässige Amerikanerin hinter dem Tresen einer Hafenkneipe. Sara war noch nicht da gewesen, darum hatte Tina ihm Gesellschaft geleistet. Ironisch-intelligente, spontane, humorvolle Gesellschaft. Schon innerhalb weniger Minuten war zwischen ihnen eine ganz besondere Verbindung entstanden.
Damit hatte es jedoch für einige Wochen sein Bewenden gehabt, bis ihm Sara in ihrer kühlen, nüchternen Art mitgeteilt hatte, sie habe einen anderen Mann kennen gelernt. Das war für Christian ein Schock gewesen, ein Schlag vor den Kopf, auch wenn sie in ihrer Beziehung durchaus ihre Probleme gehabt hatten. Jetzt musste er sich eingestehen, dass es nicht lange gedauert hatte, sich von dem Schock zu erholen - und der Dank dafür galt Tina.
Seltsam war, dass Rebecca etwas von Tina an sich hatte. Nicht vom Aussehen oder vom Auftreten her. Es war etwas anderes, etwas, das tiefer lag. In beiden steckte eine Kraft und Stärke, die von der äußeren Zartheit vollkommen verborgen wurde. Saras Robustheit hingegen sprang schon von weitem ins Auge.
Christian begab sich erneut zu den Kiosken, aber von Rebecca war noch immer nichts zu sehen. Er ging weiter in Richtung Polizeiwache. Der Wind trieb eine Zeitungsseite zwischen den heruntergekommenen Häusern hindurch. Je näher er der Polizeiwache von Pjevac kam, umso größeres Chaos herrschte in Christians Kopf. Es erschien ihm absurd, in einer so komplizierten und lebenswichtigen Angelegenheit einen Ort aufzusuchen, wo man vielleicht nicht einmal richtig Englisch oder Deutsch sprach. Wenn es um Mord ging, durfte es aber keinen Raum für Missverständnisse geben. Im selben Moment erschrak er. Ein Polizist bog um die Ecke. Suchte man ihn schon? Hatte ihn jemand gesehen und den Beamten eine Personenbeschreibung gegeben? Der Polizist sah eher überdrüssig als aufmerksam aus, trotzdem änderte Christian seine Route - und seinen Plan. Er musste die Polizei vergessen und stattdessen mit der Kassette zu den westlichen Ermittlungsbehörden gehen, die mit dem Unglück beschäftigt waren, und ihnen alles von Anfang an erklären. Die würden im Nu ein Gerät zu beschaffen wissen, mit dem man die Kassette ansehen konnte. Falls es ihm gelänge, sich das Band zuvor selbst anzuschauen, würde er ebenso vorgehen.
Als Erstes aber musste er Rebecca finden. Ob sie schon mit dem Vorgesetzten ihres Mannes gesprochen hatte? Christian kehrte wieder in die menschenleere Gasse mit den verlassenen Kiosken zurück. Langsam ging er die Straße entlang und sah sich aufmerksam um. Rebecca hatte nicht wie eine Frau gewirkt, die sich unnötig verspätete.
Wie zur Erinnerung an den Schock am Tatort drang Christian Rauchgeruch in die Nase. Jemand fachte den Holzherd an oder verbrannte Abfall. In der Ferne rauschte beruhigend das Meer.
Auf einmal blieb Christian abrupt stehen, weil er hinter einem Eiskiosk etwas Schwarzes hervorblitzen sah. Er trat näher, beugte sich nach vorn und erkannte, was es war.
Ein Schuh.
Christian holte stoßweise Atem. Er wusste, wer solche Schuhe trug.
Mechanisch bog er ein paar raschelnde Zweige zur Seite. Dahinter kam eine Leiche zum Vorschein, bleich und mit einer Schusswunde in der Stirn.
Rebecca.
ZWEITER TEIL
22
Die Welt um Christian verfinsterte sich, als er auf Rebeccas aufgerissene Augen und die rotschwarze
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