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Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Titel: Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilkka Remes
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weißt, dass ich dir das nicht sagen kann.« Der Fahrer bremste abrupt. Coblentz sah vor sich ein schwankendes, mit Heu beladenes Pferdefuhrwerk.
    »Wann kommst du nach Hause?«
    »Bald.«
    Der Fahrer hielt nach einer Gelegenheit zum Überholen Ausschau, aber die schmale Straße machte eine scharfe Biegung, sodass man nicht weit genug sehen konnte. Der BMW fuhr so dicht auf, dass einzelne Halme von dem Fuhrwerk auf die Motorhaube rieselten.
    »Deine Mutter hat angerufen. Sie macht sich Sorgen, weil sie so lange nichts von dir gehört hat. Ruf sie an.«
    »Ich werde es versuchen«, sagte Coblentz. Es piepste scharf im Hörer. »Da ist ein anderes Gespräch für mich. Wir müssen aufhören.«
    Coblentz unterbrach die Verbindung per Tastendruck und nahm das neue Gespräch an. »Die Journalistin Sylvia Epstein sitzt auf dem Flughafen Tivat in einer ]ATMaschine, die in fünf Minuten nach Belgrad startet.«
    »Haltet die Maschine auf!«
    »Diese Jugos lassen sich nicht so einfach herumkommandieren.«
    Christian saß auf dem Stroh und versuchte, sein altes Ich wieder zu fassen zu bekommen, den Forscher mit dem eisernen Willen, der vor Tatendrang strotzte. Der Wechsel vom Luxusbüro bei IC-Pharma in das Kellerverlies, durch das die Ratten huschten, war zu unglaublich, um wahr zu sein.
    Ein überraschender Gedanke unterbrach seinen Konzentrationsversuch. Wollte er den Forscher Brück denn überhaupt wieder zu fassen bekommen? Er hatte dem ANTI -Projekt Jahre seines Lebens geopfert. Er war ein Workaholic, das musste er zugeben, auch wenn er das Wort hasste und fand, es müssten eigentlich zwei Begriffe an dessen Stelle treten - für zwei unterschiedliche Varianten des Phänomens. Es gab Menschen, die unter dem Druck ihrer Vorgesetzten zu viel arbeiteten und darunter litten. Und dann gab es Leute wie ihn, für die Arbeiten eine Lebensform war. Sie taten, was ihnen gefiel, auch wenn ihr Leben in den Augen anderer wie eine einzige Schufterei wirken mochte. Christian hatte eine Faustregel entwickelt, wie man eine negative Zentrierung auf die Arbeit erkennen konnte. Man musste nur gedanklich ein paar Lebensjahre in die Zukunft rücken und aus dieser Perspektive die vergangene Zeit betrachten. Stellte sich dann das Gefühl ein, Zeit zum Fenster hinausgeworfen zu haben, sollten die Alarmglocken schrillen. Stellte sich jedoch Zufriedenheit über die geleistete Arbeit ein, war alles in Ordnung.
    Und wenn er die IC -Pharma-Jahre als Familienvater mit Kindern verbracht hätte? Allein der Gedanke war unmöglich. Er hatte die wissenschaftliche Laufbahn ergriffen wie ein Ertrinkender den rettenden Strohhalm. Wenige Sekunden an der Straßenbahnhaltestelle in Heidelberg hatten sein Leben in zwei Teile gespalten - in die Zeit davor und die Zeit danach. Der junge Chirurg, der überheblich auf seine braven Kollegen hinab geschaut hatte, war mit einem Schlag all seine Selbstsicherheit und Selbstachtung losgeworden und hatte sich ein neues Leben rund um die Neurowissenschaften aufbauen müssen. Die übermäßige Arbeit, die das bedeutet hatte, war zugleich Therapie gewesen.
    Als er am Leopold-Müller-Institut in London an seiner Dissertation schrieb, hatten sich Sara und seine Freunde in Deutschland Sorgen um ihn gemacht. Mehrere Male hatte Christian sie mit der Behauptung beruhigt, er sei im Kino oder im Pub gewesen, obwohl er in Wahrheit am Bildschirm gesessen und in einer Excel-Datei numerische Reihen für den Anhang seiner Doktorarbeit zusammengestellt hatte. Im Nachhinein hatte er es bereut, nicht manchmal lockerer gewesen zu sein, aber das hatte er nicht einmal Sara gegenüber zugegeben. Tina hingegen hatte sich an seinen langen Arbeitstagen nicht gestört. Als Künstlerin verstand sie vielleicht, wie entscheidend es war, das zu tun, was man selbst für wichtig hielt. Sie hörte gern zu, wenn Christian über seine beruflichen Probleme sprach, sie fragte sogar nach, wenn er mal nicht von sich aus auf das Thema kam.
    Christian lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wie hatte er nur eine Wissenschaft dermaßen idealisieren können, die den Menschen letztlich als autonomes, über sein eigenes Leben bestimmendes Subjekt ablehnte und das Gehirn als eine Art biologischen Computer betrachtete? In seinem tiefsten Inneren hatte er daran geglaubt, die neurochemische Endosmose und die Bewegungen der Ionen würden sämtliche Erlebnisse, Gefühle und Erkenntnisse produzieren - also das Ich des Menschen. Wie hatte er einem solch deterministischen

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