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Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Titel: Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilkka Remes
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Erdgeschoss des burgartigen Gebäudes waren alle Fenster vergittert.
    Die scharfen Kanten der Handschellen scheuerten an Christians Handgelenken. Man stieß ihn in eine Eingangshalle mit Steinfußboden, in der es stark nach Zigarettenqualm roch. Von dort ging es weiter in einen hallenden Gang. Christian musste feststellen, dass seine aufkeimende Zuversicht verfrüht gewesen war.
    In dem Gang befanden sich sechs Türen mit schweren Schlössern. Hinter einer hörte man das untröstliche Weinen eines Mannes, ein mit Schmerzen durchsetztes Wimmern, von dem Christian eine Gänsehaut bekam. Man öffnete ihm eine Kerkertür, stieß ihn hinein und schlug die Tür sogleich wieder zu. Er sank zu Boden und spürte den Gestank von Erbrochenem in seine Nase dringen. Hinter ihm rasselte das schwere Schloss beim Verriegeln der Tür.
    Christian sah sich in der etwa zehn Quadratmeter großen Zelle um. Als Matratze diente Stroh, der Fußboden war mit schmutzigen Sägespänen bestreut, und für die Notdurft stand ein Emaileimer bereit. Als einzige Lichtquelle fungierte ein schmales Fenster oben an der Wand. Die dicken Gitterstäbe davor waren überflüssig, denn durch die Öffnung hätte nicht einmal ein vierjähriges Kind gepasst.
    Christian raffte das übel riechende Stroh zu einem Haufen zusammen und ließ sich darauf nieder. Er hätte eigentlich dringend Schlaf gebraucht, aber daran war nicht zu denken. Früher hatte er im Schlaf sogar Zuflucht gesucht, besonders in den Träumen, denn die besaßen eine merkwürdige Eigenschaft: Die Gefühle, die man im Traum hatte, waren Urgefühle, die man von den Vorvätern geerbt hatte. Viele negative Emotionen wie Scham und Schuldgefühle kamen im Traum nicht vor. Dies war ein Beweis dafür, dass sie erlernt und von Gemeinschaften ankonditioniert waren und nicht von Natur aus auftraten. Das hatte Christian nach der Tragödie mit Sven getröstet. Denn wenn Schuldgefühle ankonditioniert waren, konnte man sie auch wieder loswerden. Bis jetzt war ihm das jedoch nicht gelungen.
    Lange lag Christian regungslos auf dem Stroh. In der letzten gemeinsamen Nacht mit Tina hatten sie sich darüber unterhalten, warum es einem mit zunehmendem Alter so vorkam, als verginge die Zeit schneller. Ein Sommer, der in der Kindheit ewig gedauert hatte, verging heutzutage im Nu. Als sie überlegt hatten, wie viele jähre seit dem Beginn des Studiums vergangen waren und die Zahl mit ihrem Alter addiert hatten, waren beide auf die Summe fünfzig gekommen.
    Paradox war, dass jemand, der einer kreativen Arbeit nachging, das Gefühl für die vergehende Zeit komplett verlieren konnte, wenn er sich in eine interessante Aufgabe vertiefte. Es erinnerte an eine Totalitätserfahrung, es war ein Erlebnis von Ganzheit und Unversehrtheit, die sich dann einstellte. Ein intensiver Arbeitstag konnte zu Ende sein, noch bevor er richtig angefangen hatte. Christian hatte vorgeschlagen, sich zum Ausgleich einen langweiligen Film anzusehen, denn dabei käme einem eine Stunde mindestens so lang vor wie zwei, und Tina hatte gelacht. Sollte ein echter Chronophobiker nicht lieber einen abgrundtief faden Beruf ergreifen, bei dem ihm die Zeit doppelt so lang vorkam?
    Christian sprang auf, als er eine große Ratte in einem Loch in der Ecke der Zelle verschwinden sah. Bald würden die Killer hier auftauchen und ein Dokument oder einen Mann mitbringen, dem sich der örtliche Polizeichef nicht widersetzen konnte, worauf er Christian ausliefern würde. Wenn er hingegen rechtzeitig von einem sprachkundigen Polizisten verhört würde, bliebe ihm wenigstens eine theoretische Chance. Sollte er die Aufmerksamkeit der Wächter wecken, um so bald wie möglich verhört zu werden?
    Probehalber holte er tief Luft und brüllte: »Hört mich jemand? Ich will mit jemandem reden!«
    Doch seine Worte schienen keine Wirkung zu haben, abgesehen davon, dass der Schicksalsgenosse in der Nachbarzelle angespornt wurde und in ein unfassbares Heulen ausbrach. Christian verstummte, aber der Unglückliche nebenan setzte sein wahnsinniges Jaulen fort.
    »Du hast Martha einen Schrecken eingejagt«, sagte die Stimme einer jungen Frau im Hörer von Coblentz' Satellitentelefon.
    »Ich weiß. Ich musste... los.« Coblentz blickte durch die Windschutzscheibe des BMW Geländewagens auf den Nadelwald, der sich endlos über die unteren Berghänge erstreckte.
    »Los wohin? Wo bist du?«
    »In Europa.«
    Am anderen Ende der Leitung erklang ein tiefer Seufzer. »Ost oder West?« »Du

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