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Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Titel: Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilkka Remes
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Wissenschaftsglauben anhängen können, wie hatte er so blind an die Überlegenheit der Gehirnchemie gegenüber der Fähigkeit, dem Verantwortungsbewusstsein und der Pflicht des Menschen, eigene Entscheidungen zu treffen, glauben können? Der Mensch, der Rebecca hingerichtet hatte, würde hämisch lachen, wenn er die Ansichten der Neurobiologen über die neurochemischen Einwirkungen auf das menschliche Aggressionsniveau zu Ohren bekäme. Es war nicht das limbische System des Gehirns, das in dem Mörder das Böse geweckt hatte, es war der Täter selbst, sein Ich. Plötzlich fuhr Christian auf dem schmutzigen Stroh zusammen. Durch die Gitterstäbe war etwas auf den Fußboden gefallen. Ein zerknülltes Blatt Papier. Christian hob es auf und glättete es. In Druckbuchstaben stand dort auf Englisch:
    WIRF DICH NEBEN DER TÜR AUF DEN BAUCH. SCHÜTZE DEINEN KOPF, HALTE DEN MUND OFFEN.
    Mehr instinktiv und reflexartig als von der Vernunft gelenkt befolgte Christian die Anweisungen. Er warf sich auf den kalten, stinkenden Boden und legte die Hände schützend über den Kopf.
    Es vergingen einige Sekunden. Nichts geschah, dann aber explodierte die Welt um ihn herum, und seine schwarzen Gedanken gingen in einem blendend hellen Licht auf.
36
    Für einen Moment trübten der Lärm der Explosion und die Druckwelle Christians Bewusstsein. Ein betäubender Schmerz dröhnte in seinen Ohren, der aber im Nu von grellen Schmerzen in den Beinen und im Rücken überlagert wurde, als etwas Schweres auf ihn fiel. Kleine Steine und große Brocken prasselten auf den Boden, und trockener Staub raubte Christian den Atem. Er hustete Schleim, und die Erde unter ihm schwankte.
    Dann spürte er, wie ihn jemand packte und wegschleifte. Er hörte nichts, der Schmerz in den Ohren strahlte bis in die Augen aus. Dunkel begriff er, dass die Wand ein Loch hatte, durch das man ihn nach draußen zerrte.
    Zwei bewaffnete Männer in schwarzen Sturmoveralls rannten mit ihm einen flachen Hang hinunter. Christians Beine zitterten kraftlos, es gelang ihm nicht, Halt zu finden. Seine Schuhspitzen schleiften über die Erde. Die Männer stießen ihn in einen Geländewagen, der am Straßenrand wartete und sofort mit Vollgas losfuhr, sodass Christian in den Sitz gedrückt wurde.
    Einer der Männer drehte Christians Handgelenke zur Seite, setzte eine pneumatische Zange an und trennte das Metall der Handschellen durch. Anstelle der abgenutzten montenegrinischen legte man ihm neue, glänzende westliche Modelle an und ließ sie zuschnappen. Christian hatte das Gefühl, sich mitten in einem Horrorfilm zu befinden, die Welt schien noch immer zu schwanken und sich zu verzerren. Er hatte die Realität nicht unter Kontrolle, er saß einfach da und versuchte zu begreifen, was mit ihm geschah.
    Nach und nach gelang es ihm, sich ein Bild von der Umgebung zu machen. Er erfasste, dass das Fahrzeug voller bewaffneter Männer war, die soldatisch gerade und schweigend auf ihren Plätzen saßen. Alles wirkte im westlichen Stil durchorganisiert und strahlte eine furchterregende Effizienz aus. Die Männer waren Christian fremd, Coblentz war nirgendwo zu sehen. Der Fahrer lenkte gekonnt den Wagen bei hohem Tempo, ein dunkler Van raste vor ihnen her, ein zweiter folgte ihnen.
    Am Himmel riss die Wolkendecke auf, und niedrig einfallende Sonnenstrahlen brachten die Äste der nassen Fichten zum Funkeln. Das Licht erinnerte Christian an die Gemälde von Tina. Eifersüchtig hatte sie das Geheimnis ihrer schöpferischen Arbeit gehütet und ihm nie ein unfertiges Bild gezeigt, angeblich hätte das den Zauber des Werks zerstört.
    Christian glaubte, man würde ihn nun zwingen, den Weg zur Kassette zu beschreiben, aber der Konvoi fuhr in Richtung Küste. Das war also jetzt die Eskorte zu seiner Hinrichtung. Nur dass sie ihn nicht hinrichten würden, bevor sie die Kassette hatten. Die Kassette war sein einziger Trumpf. Sein Schicksal würde in dem Moment besiegelt sein, in dem die Kassette in die Hände dieser Männer geriet.
    Christians Eigensinn erstarkte bei diesen Gedanken. Er durfte die Wahrheit über den Unglücksflug nicht mit ins Grab nehmen. In seinem Inneren gewannen die Begriffe Verantwortung und Ehre eine ganz neue Bedeutung. Für einen Augenblick achtete er sich selbst mehr als je zuvor. Sein Leben lang hatte er sich wegen verrinnender jähre, Tage, Stunden gegrämt. Und jetzt, da seine Zeit tatsächlich begrenzt war, empfand er keinerlei Bedrängung oder Furcht. Nicht die Masse der

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