Remes; Ilkka - 5 - Höllensturz
gewesen: Sie sollten sich den Geiseln erst nähern, wenn die Situation ohne jeden Zweifel in die Sackgasse geraten war. Die Rolle von Yamam sollte den Briten und den Finnen nicht unnötig verraten werden. Sie würden die Lage bis zum Schluss unübersichtlich halten. Das Optimum wäre, wenn die Entführer für die Mörder der Geiseln gehalten würden, und nicht Yamam.
54
Johanna war bis ins Mark erschüttert.
Sie saß in ihrem Büro vor dem digitalen Aufnahmegerät. Ein ums andere Mal hatte sie die Nachricht auf Saaras Mailbox abgehört. In ihrem Beruf waren ihr schon viele Telefonate und Aufzeichnungen zu Ohren gekommen, aber noch nie etwas so Entsetzliches. Kupiainen saß ihr schweigend gegenüber.
Draußen blies der Wind leichte Schneeflocken durch die menschenleeren Straßen von Pudasjärvi. Niemand war unterwegs, der Kiosk war seit neun Uhr geschlossen, der Imbiss am Markt seit elf.
Kupiainen war zu Johanna aufs Revier gekommen und hatte die Nachricht auf einem kleinen MP3-Gerät aufgenommen. Am nächsten Tag würde das Labor eine eigene Aufnahme machen, direkt von den Computern des Telefonanbieters Sonera .
Noch einmal schaltete Johanna das Aufnahmegerät ein. Die Stimme kam wie von fern, als hätte das Telefon in einer Tasche gesteckt. Laut Kupiainen war es wahrscheinlich auch genau so gewesen.
Die Nachricht begann mitten im Satz, genauer gesagt mitten im Lied. Eine Frauenstimme sang: »… bald wird ins schwarze Grab mein armer Leib gelegt …«
An dieser Stelle stöhnte die Frau vernehmlich, als hätte jemand sie geschlagen, fuhr aber fort: »… und von allen Fesseln befreit meine teure Seele …«
Ende der Nachricht.
Das Kirchenlied hatte einen langsamen Takt und die Stimme einen Klang, von dem Johanna eine Gänsehaut bekam. Sie wusste nicht genau, ob es Erjas Stimme war, nahm es aber an.
Erschüttert starrte Johanna auf das Aufnahmegerät. »Kannst du da auf Anhieb etwas herausholen?«
Kupiainen seufzte. Er wirkte grau und war sichtlich in schlechter Verfassung. »Vermutlich ist die Verbindung aus Versehen zustande gekommen. Weil das vorige Gespräch an Saara ging, nehme ich an, dass die Taste für die Rufwiederholung gedrückt worden ist. Der Anruf kommt aus einem fahrenden Auto. Man hört ganz leicht das Blinkerrelais.«
»Aus was für einem Auto?«
»Dem gedämpften Motorgeräusch und dem Blinkergeräusch nach ist es eher neu. Das Labor wird das genauer sagen können.«
Johanna überlegte kurz. »Könnte es ein Lada Niva sein?«
»Nein. Eher nicht. Wie gesagt, das Labor kann das genauer sagen.«
»Eher ein neuerer Audi?«
Kupiainen zuckte mit den Schultern.
»Danke, Taisto. Geh schlafen. Wir kommen morgen früh darauf zurück.«
Kupiainen stand müde auf und nahm seine Jacke von der Stuhllehne. »Soll ich dich mitnehmen? Du solltest vielleicht auch zwischendurch mal schlafen.«
»Ich gehe zu Fuß. Ich brauche ein bisschen Sauerstoff.«
Nachdem sie wieder allein war, drückte Johanna die Play-Taste und schloss die Augen. »… bald wird ins schwarze Grab mein armer Leib gelegt, und von allen Fesseln befreit meine teure Seele …«
Hatte Erja das Lied gesungen, während die Ratte sie zur Schlachtbank führte? Warum? Aus eigenem Antrieb oder gezwungenermaßen? Das schmerzhafte Stöhnen zwischendurch deutete darauf hin, dass Erja die Nachricht nicht nur vor sich hingesungen hatte, und dass sie nicht dazu gezwungen worden war. Im Gegenteil. Sie hatte die Ratte gezwungen, zuzuhören.
Kupiainen war der Meinung, die Nachricht könne nicht aus einem Lada Niva gekommen sein. Falls Erja demnach im Auto der Ratte zum Tatort gebracht worden war und falls Launo Kohonen kein anderes Fahrzeug als sein eigener Lada zur Verfügung gestanden hatte, war Launo Kohonen nicht die Ratte. Johanna stellte fest, dass sie dieser Gedanke keinesfalls überraschte.
Sie suchte erneut die Nummer von Timo Nortamos Satellitentelefon heraus.
Vor den Geschäften der kurzen Basargasse von Al-Ghirbati waren die Metallrollläden heruntergelassen. Timo ging mit langsamen Schritten auf das zweistöckige Gebäude aus Hohlblocksteinen am Ende der Gasse zu. Mit pochendem Herzen hob er schon kurz nach der Mitte der Gasse die Hände. Sein Hemd war nass vom Schweiß. Die Nacht hatte die Hitze, die tagsüber von der Erde und den Häusern aufgesaugt worden war, nicht vertreiben können.
Mit ruhigen Schritten ging er weiter. Das Gebäude wirkte verlassen. Die Fensterläden waren geschlossen, nirgendwo sickerte Licht durch. Timo
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