Remes; Ilkka - 5 - Höllensturz
Mord.
Die Ratte war ein Mensch aus Fleisch und Blut, der fähig war zu töten.
Neben Johanna probierte eine schwangere Frau Schuhe an, ohne Eile und offenbar guter Dinge.
»Jere müsste auch neue bekommen«, sagte sie mit Blick auf die Kinderschuhe. »Die alten von Joonas passen ihm nicht mehr, die gehen wohl direkt an Oskari oder an Niilo.«
»Ich habe eine kleine Partie Elefanten-Schuhe bestellt, die kommen nächste Woche«, sagte der Ladenbesitzer. »Da könnten welche für Emilia dabei sein.«
Die Frau lachte kurz auf. »Ich verstehe nicht, wo Emilia gelernt hat, so wählerisch zu sein. Jenna sind alle Schuhe recht.«
Johanna stand auf. Ihr war schwindlig, sie hatte sechs Kindernamen gezählt. Sie betrachtete im Spiegel die vernünftigen Winterschuhe an ihren Füßen und mochte sie überhaupt nicht, aber jetzt war keine Zeit, sich über Stilfragen den Kopf zu zerbrechen.
Sie zahlte mit der Kreditkarte, verdrängte den Gedanken an die nächste Rechnung und verließ das Geschäft.
In der Tasche vibrierte das Handy. Sie sah auf das Display: Kupiainen von der technischen Ermittlung.
»Wegen des Namens in der Adressenliste«, sagte er. »War keine spezielle Laboruntersuchung nötig, es hat genügt …«
»Ja?« Johanna verbarg ihre Ungeduld nicht, damit Kupiainen gar nicht erst anfing, wie üblich einen Vortrag über seine technischen Maßnahmen zu halten.
»Dort steht Tomi Stenlund. Und eine GSM-Nummer.«
Das hatte nicht unbedingt etwas zu bedeuten, aber eines war nun klar: Stenlund hatte gelogen, als er behauptet hatte, keines der beiden Opfer gekannt zu haben.
»Okay. Ich komme.«
Johanna ging in ihren neuen Winterschuhen zum Polizeirevier. Die alten trug sie in einer Plastiktüte, und sie kam sich schon eine Idee vernünftiger und normaler vor als bei ihrer Ankunft in Pudasjärvi. Es waren kaum Leute unterwegs. Vor dem Büro eines Steuerberaters krächzte eine Krähe auf dem Dach eines alten bäuerlichen Speichergebäudes, das mitten in der Stadt vergessen worden war.
Irgendwo hier in der Gegend hielt sich auch die Ratte auf. Johanna beurteilte die Ratte auf der Basis dessen, was sie an der FBI-Akademie in Quantico gelernt hatte. Sie konnte nichts dafür, dass in ihr immer wieder das Wort Serienmörder aufstieg. Etwas an dem Wort passte allerdings nicht zu der hiesigen Umgebung. Die Finnen brachten andere Menschen meistens in betrunkenem Zustand um. Gewaltverbrechen mit psychotischem Hintergrund des Täters kamen selten vor. Vielleicht war Johanna deshalb so irritiert. Konnten die Verbrechen unter Umständen mit ekstatischer, beim Täter fehlgeleiteter Religiosität zu tun haben? Das war möglich, aber unwahrscheinlich.
Johanna fragte sich, warum ihr immer wieder die Ausbildung in den USA in den Sinn kam. Vielleicht war der Kontrast zu der jungen Kriminalpsychologin, die sie damals gewesen war, so groß, wenn sie an ihren jetzigen Alltag dachte: Zweizimmerwohnung mit 35 Quadratmetern und Balkon, lange, einsame Spaziergänge durch Helsinki, ewig Überstunden, um die immer zuerst diejenigen ohne Familie gebeten wurden. Und zu denen sie sich jedesmal bereitwillig meldete, denn sonst hatte sie eigentlich nichts zu tun …
Eine halbe Stunde später saß Johanna im Polizeirevier von Pudasjärvi am Kopfende einer langen Tafel, die aus zwei zusammengeschobenen Tischen bestand. Das Team, das sie zusammengestellt hatte, traf sich zum ersten Mal: aus Vantaa Taisto Kupiainen, der Spezialist für technische Ermittlungen und Verbindungsmann zum Labor, sowie Hedu Wikman und Lilja Vuokko. Aus Oulu waren Tuomo Kulha und Aki Jarva dabei.
Fünf erfahrene Mordermittler, mit denen sie früher schon zusammengearbeitet hatte. Am meisten mit Hedu Wikman und mit Lilja Vuokko, aber in mindestens zwei Fällen auch mit Kulha, der vor einiger Zeit von Helsinki nach Oulu gezogen war. Aki Jarva hatte sie kennen gelernt, als sie bei der KRP einen Profiler-Kurs geleitet hatte. Außerdem gehörten Kekkonen aus Oulu und der Polizist Pasi Lopponen aus Pudasjärvi zum Team. Die lokale Verstärkung war unerlässlich, ohne Kontaktmann zur Polizei vor Ort ging es nicht.
»Auf dem Waldweg, auf dem die Salmi ermordet wurde, haben wir eine Hülse gefunden«, sagte Kupiainen. »Von einem Gewehr, Kaliber 308. Nach der Spur des Schlagbolzens zu schließen war es eine andere Waffe als die des Trios, das die Leiche fand. Das Labor wird das noch genauer untersuchen. Die Kugel aus dem Opfer kriegen wir heute unters Mikroskop. Wer geht zur
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