Remes; Ilkka - 5 - Höllensturz
nichts Besonderes in der Wohnung gefunden. Sie meinten, Erja sei eindeutig keine von den Frauen gewesen, deren Kleiderschrank frappierende Überraschungen offenbarte.
Aber das war die Meinung der Spurensicherung. Johanna sah sich die Wohnung jetzt aus der Perspektive der taktischen Ermittlerin an. Sie wollte sich möglichst intensiv mit Erjas Zuhause vertraut machen, denn der beste Weg, einem Mörder auf die Spur zu kommen, führte über das Opfer. Erja würde ihr den Weg in die Welt der Ratte weisen. Bei neunzig Prozent aller Gewaltdelikte in Finnland kannten sich Täter und Opfer.
Aber dieser Doppelmord war alles andere als ein typisches finnisches Gewaltdelikt.
Hatte die Ratte Erja gekannt? Oder hatte sie sich blindlings oder nach genauer Überlegung ein unbekanntes Opfer ausgesucht?
Auf den Tischen, Griffen, Armlehnen, Türrahmen und anderen Flächen der etwa sechzig Quadratmeter großen Wohnung war der ziegelrote Ferrooxydstaub zu sehen, mit dem die Leute von der Spurensicherung die Fingerabdrücke sichtbar gemacht hatten. In Plastikbeuteln hatten sie Zahnbürste, Haarbürsten, Trinkgläser und Essbesteck mitgenommen, außerdem hatten sie Faserproben von der Couch, den Stühlen und vom Bett abgenommen.
Allen Spuren zufolge war Erja nicht zu Hause ermordet worden – trotzdem war es möglich, hier der Ratte auf die Spur zu kommen. Vielleicht hatte sie Erja besucht.
Johanna sah sich Erjas Bild noch einmal aus der Nähe an. Über der einfarbigen Bluse trug sie ein relativ großes Kreuz um den Hals.
Die Techniker, die Erjas Leiche untersucht hatten, hatten von einer Spur gesprochen, die wahrscheinlich durch das gewaltsame Abreißen einer Halskette entstanden war. Hatte es sich dabei um das Kreuz auf dem Foto gehandelt?
Am Hals von Anne-Kristiina hatte man eine ähnliche Spur gefunden.
Warum hatte die Ratte den Opfern die Halsketten heruntergerissen?
Johanna stellte das Abiturfoto aufs Regal zurück und las die Aufschriften der Buchrücken: ›Gottesfurcht gibt Sicherheit‹, ›Das große Handarbeitsbuch‹, ›Die Zeiten ändern sich – Gott bleibt‹, ›Gesunde Ernährung‹.
Die Wohnungseinrichtung war schnörkellos: Flickenteppiche auf dem Vinylboden, eine traditionelle Polstergarnitur, Textiltapete, auf dem Couchtisch die neueste Ausgabe der Lehrer-Zeitschrift. Einen Fernseher gab es nicht, wie in allen Wohnungen konservativer Laestadianer. Johanna hatte sich dazu mit den wichtigsten Informationen versorgt und zu ihrer Überraschung festgestellt, dass die größte Erweckungsbewegung der evangelisch-lutherischen Kirche 100 000 Mitglieder zählte.
Das Bettsofa war zusammengeklappt, aber auf dem Stuhl daneben lag zusätzliches Bettzeug, von dem auch Proben entnommen worden waren. Wie es aussah, hatte Anne-Kristiina in der Nacht vor dem Mord auf dem Sofa übernachtet und beabsichtigt, auch die folgende Nacht dort zu verbringen. Ihre Wohnung in Helsinki würde ebenfalls untersucht werden.
Über dem schmalen Bett im Schlafzimmer lag eine Patchworkdecke.
Auf dem Schreibtisch standen nur noch der Computerbildschirm und die Tastatur. Den Rechner selbst hatte das Team von der KRP vorhin mitgenommen. Auf dem Fußboden stand eine Nähmaschine.
Das Bücherregal neben dem Tisch war voller und wirkte weniger geordnet als das im Wohnzimmer: Ordner, Mappen, abgegriffene Schulbücher, Hefte und Fotokopien.
In der wenige hundert Meter entfernten Schule fand gerade eine Veranstaltung statt, in der Schülern und Personal Krisenhilfe angeboten wurde. Johanna beneidete die Kollegen nicht, die die Kinder über den gewaltsamen Tod ihrer Lehrerin informieren mussten. Zweifellos würde der Vorfall hier in religiösem Sinn behandelt werden. Warum nicht, Hauptsache, die Kinder erhielten irgendeine Form von Trost.
Johanna war Kindern gegenüber hilflos, sie wusste einfach nicht, auf welcher Ebene man sich Kindern im Grundschulalter nähern sollte. Ihre einzigen Erfahrungen beruhten auf dem Nachwuchs zweier Kommilitoninnen und ihrer Schwester. Denn vorläufig … nein, sie hatte endgültig beschlossen, innerhalb eines Jahres eine Familie zu gründen. Punkt.
Sie griff nach Erjas Taschenkalender auf dem Schreibtisch und blätterte in den Einträgen der letzten Wochen: Prüfungstage, Verabredungen, Konferenzen.
Sie überflog die sauber geschriebenen Namen auf den Adressseiten. Bis jetzt sagten sie ihr nichts.
Bei Saara Vuorio waren mehrere Adressen, auch ausländische, durchgestrichen.
Beim Buchstaben »S« blieb Johanna
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