Remes; Ilkka - 5 - Höllensturz
schlüpfte zur Tür hinaus.
Johanna blickte auf die Uhr und trat nachdenklich auf den leeren Flur.
Plötzlich blieb sie stehen. Aus einer Klasse drang ein Kirchenlied auf den Flur. Durch den zögernden Gesang der Kinder dröhnte die starke, unerschütterliche Stimme eines Mannes, die Johanna als die Stimme des Rektors erkannte.
Sie verließ das Gebäude und sah zu ihrer Überraschung Hedu neben einem schmutzigen Toyota stehen. Er wartete, bis Johanna näher gekommen war.
»Ich hab beim Vorbeifahren deinen Wagen gesehen«, sagte er.
»Was Neues?«
»Wir haben gerade von Sonera die Telefonverbindungen von Erja Yli-Honkila bekommen. Ihr letztes Gespräch hat sie am Samstag mit Saara Vuorio geführt, um 16.21 Uhr. Dauer 32 Sekunden. Das vorletzte Gespräch endete fünf Stunden früher. Dieser Anruf ging an Anne-Kristiina Salmi. Dauer 2 Minuten.«
»Und?« Johanna sah den boshaft grinsenden Hedu an und gab sich Mühe, über dessen absichtliche Verzögerung nicht in Rage zu geraten.
»Das drittletzte Gespräch war am Freitagnachmittag. Sie hat Tomi Stenlund angerufen. Dauer des Telefonats: 42 Minuten. Wir sollten uns vielleicht die Genehmigung holen, auch Stenlunds Telefonverbindungen anzufordern.«
14
Der raue Wind blies Lea vom offenen Meer her ins Gesicht. Sie stand am Fenster im zweiten Stock, zog den Rollkragen ihres Wollpullovers noch weiter hinauf und ließ die Kälte über ihr Gesicht fahren und alles Stickige aus dem Zimmer spülen.
Schließlich kehrte sie frierend zu dem Karton zurück, den sie aus der Kammer geholt hatte. Beklommen betrachtete sie die alten Briefe und die Fotos von Erja, Anne-Kristiina und Saara auf ihrem Bett.
Sie erinnerte sich an eine Diskussion, die sie zu dritt führten. Es ging um die Frage, was Sünde sei. Wo verlief die Grenze? Zum Beispiel in der Musik – gab die Tonart den Ausschlag, waren die Instrumente entscheidend oder der Text eines Liedes? Durfte man farblosen Nagellack benutzen? Oder ein Deo, wenn es nicht duftete? Die Haare durfte man nicht färben, aber durfte man sie toupieren?
Lea konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen kamen, als sie den vom 17. 8. 1994 datierten Brief las, den Erja ihr aus Kajaani geschickt hatte, im ersten Jahr ihres Studiums. Es war eine schmerzliche Mischung aus jugendlicher Unsicherheit und unerschütterlichem Glauben. Lea wusste am Ende nicht, ob sie über ihre verlorene Jugend oder über Erjas Schicksal weinte.
Erja hatte den Brief mit der letzten Strophe ihres Lieblingskirchenliedes beendet, das im Gesangbuch die Nummer 507 trug: »Segne der Jugend Kräfte, die Gaben, die du schenkst. Die Liebe und das Herz du mit deinem Licht bedenkst. Hilf immer dir vertrauen, lenke all meine Tage, lass meine Jugend auf dich bauen.«
Bei Lea war es mit dem Bauen der Jugend vorbei. Schon lange hatte sie das Gefühl, unter einer klassischen 30er-Krise zu leiden. Gern hätte sie mit Saara darüber gesprochen. Zu Saara hielt sie noch den engsten Kontakt, mit den meisten ehemaligen Schulfreundinnen hatte sie so gut wie nichts mehr zu tun.
Sie spielte mit dem Kreuz an ihrer Halskette. Sie trug es noch immer, als eine Art beruhigende Erinnerung an die profunden Dinge, auch wenn sie sich vom Weltbild der Schwestern Zions längst distanziert hatte.
Das Telefon klingelte. Am Apparat war Kommissarin Vahtera, die auch am Morgen schon angerufen hatte. Sie wollte über Tomi Stenlund sprechen, aber Lea kannte den Mann gar nicht.
Im Polizeirevier von Pudasjärvi legte Johanna den Hörer auf. Es wäre wichtig, Lea Alavuoti zu vernehmen, dachte sie.
Die Schwestern Zions.
Durch die Jalousien fiel der Blick auf finsteren Fichtenwald. Vor dem Revier hatten vorhin zwei Journalisten gelauert. Der eine war der Polizeireporter des Boulevardblattes ›Ilta-Sanomat‹, und Johanna kannte ihn recht gut. Trotzdem hatte sie keinen Kommentar abgegeben. Mit Interesse erwartete sie die Zeitungen von morgen, denn wahrscheinlich hatten die Journalisten im näheren Umfeld der Opfer auch Personen aufgestöbert, mit denen die Polizei noch nicht gesprochen hatte.
Johanna faltete das Blatt Papier auseinander, das ihr Jenni Ahonen im Lehrerzimmer zugeschoben hatte. Es handelte sich um eine Beschwerde über Erjas Lehrmethoden und ihren Religionsunterricht.
Besonders die Disziplinarmaßnahmen haben bei den Kindern Angst und Schrecken ausgelöst. Zum Beispiel musste ein Schüler zwischen Lehrern stehen, die ihn anschrien und ihm Vorwürfe machten, bis er in Tränen ausbrach.
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