Remes; Ilkka - 5 - Höllensturz
der Oberfläche des Sees hatte sich trotz des Windes eine papierdünne Eisschicht gebildet. Grünes Licht waberte unruhig in einem durchsichtigen Schleier über den Nachthimmel.
Im Fenster der Holzvilla oberhalb des Sees war die dunkle Silhouette eines Mannes zu erkennen. Karri hatte die Deckenlampe ausgeschaltet, um das Polarlicht am Himmel sehen zu können. In Gedanken versunken betrachtete er eine Weile das Naturspektakel, dann kehrte er an Saaras Computer zurück.
Er ging ihre E-Mails im Outlook-Express-Programm durch. Für den nächsten Morgen hatte er bereits seine Tasche gepackt, aber vor seiner Abreise nach Holland wollte er Saaras Computer so genau wie möglich unter die Lupe nehmen. Oder hatte der Israeli bereits bestimmte Dateien gelöscht?
Fast alle E-Mails hatten mit Publikationen, Vorlesungen und Seminaren zu tun. Einige persönliche Nachrichten waren darunter, aber etwas fehlte dennoch. Warum hatte es zwischen Saara und Luuk van Dijk keinen E-Mail-Verkehr gegeben? Cornelias Anspielung auf ein Verhältnis der beiden ließ Karri keine Ruhe.
Er ging dazu über, die Namen der Textdateien durchzugehen. Was an Saaras Arbeit hatte letztlich das Interesse der Israelis geweckt? War es ihr neuestes Projekt, die Deutung der Papyrusrolle von Oxyrhynchos, an die sie über van Dijk gekommen war? Die griechischen, lateinischen, hebräischen, aramäischen und koptischen Textrollen, die vor zweitausend Jahren auf der Müllkippe der Stadt Oxyrhynchos abgeladen worden waren, enthielten neben Steuerverzeichnissen, Quittungen und literarischen Texten Fragmente eines verloren gegangenen Evangeliums, das zur gleichen Zeit geschrieben worden war wie die ältesten Schriften des Neuen Testaments. In letzter Zeit war es möglich geworden, die Texte der Schriftrollen durch neue digitale Multispektraltechnik sichtbar zu machen. Van Dijk, ein Archäologe, der an den Universitäten Oxford und Utrecht eine imposante Karriere gemacht hatte, war vor knapp einem Jahr auf Saara zugekommen, um sie zu bitten, sich an der Übersetzung jener Texte zu beteiligen, die in engem Zusammenhang mit der Bibel standen. Der Gedanke schien nahe liegend, dass die gerade erst erschlossenen Evangeliumstexte von Oxyrhynchos etwas durch und durch Umwälzendes enthielten.
Ein Teil der neueren Dokumente befasste sich auch mit den Kodizes von Nag Hammadi. Das wunderte Karri, denn der Fund von Nag Hammadi hatte kaum Neues gebracht.
Das Telefon klingelte.
Johanna Vahtera bedauerte den Zeitpunkt ihres Anrufs, kam aber gleich zur Sache: »Ich möchte wissen, woher Sie von Leas Tod erfahren haben.«
»Launo Kohonen hat mich angerufen. Haben Sie Stenlund schon freigelassen?«
»Könnten Sie in Ihrem Handy nachsehen, wann genau Kohonen Sie angerufen hat?«
Karri sah im Menü unter EMPFANGENE ANRUFE nach.
»Um 20.57 Uhr«, sagte er.
»Danke.« Nun klang Vahteras Stimme schon wieder etwas freundlicher. »Haben Sie immer noch vor, nach Holland zu fliegen?«
»Ja. Morgen früh um sechs ab Oulu.«
»Dann bleibt Ihnen nicht viel Schlaf.«
»Ich könnte sowieso nicht schlafen.«
»Guten Flug.«
Karri bedankte sich und legte auf.
Spätestens jetzt müsste die Polizei Tomi Stenlund freilassen. Karri merkte, dass er über Tomis Unschuld mehr erleichtert war, als er erwartet hatte. In seinem Innern hatte ein kleiner Zweifel genagt: Irgendwie hatte er Tomi doch als Täter verdächtigt. Unerträglich, dass Leas Tod nötig war, um Tomis Unschuld zu beweisen.
Karri kochte sich in der Küche einen Tee und bestrich ein paar Scheiben Knäckebrot mit Butter. Die aß er vor dem Computer, wobei er weitere Dokumente öffnete, die mit den alten, in Nag Hammadi gefundenen Texten zu tun hatten. Allein der Name Nag Hammadi weckte Karris Unwillen. Denn Saaras Versuch, wissenschaftliche Dinge in die Diskussion der einfachen Leute einzubringen, hatte ihm schon eine Menge Ärger bereitet. Die konservativen kirchlichen Kreise in Finnland hatten für wissenschaftliche Bibelforschung nicht viel übrig und das hatten sie Saara auch unmissverständlich wissen lassen.
Der Teufelsberg-Hinweis veranlasste Karri zu der Überlegung, ob es dabei um etwas gehen konnte, das mit Nag Hammadi zu tun hatte. Die Antiquitätenhändler und der schwarze Antikmarkt hatten 1945 bei dem Fund von Nag Hammadi in Oberägypten eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Die besonderen Umstände des Fundes hatten auch Karri interessiert, obwohl er ansonsten nicht allzu vertraut mit der Arbeit seiner Frau
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