Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
Bestimmung des Koordinatenpunktes in natura war unmöglich, aber es war auf jeden Fall wahrscheinlicher, dass sich die Geiselnehmer in einem Gebäude aufhielten als unter freiem Himmel.
Hinter den Bäumen schimmerte ein Gebäude hervor, das nach einem alten Gutshaus oder einer großen Villa aussah. Im Ohrhörer war noch immer nichts als Rauschen zu hören. Sie befanden sich noch nicht nahe genug am Funkmikrofon, oder es war gefunden und zerstört worden. Andererseits wäre beim Zerstören auch der Peilsender kaputtgegangen, und das hätte Helsinki auf jeden Fall mitgeteilt.
Auf einmal war durch das Rauschen hindurch ein Knacken wahrzunehmen. Timo stand regungslos da, aber das Knacken wiederholte sich nicht. Er ging auf das Gebäude zu, Johanna folgte ihm. Nach zehn Metern hörte er ein erneutes Knacken, dann ein anderes Geräusch, und schließlich Wortfetzen, die wegen des Rauschens aber nicht zu verstehen waren.
»Wahrscheinlich ist es das Haus dort«, sagte Timo leise. Er zog seine Glock-Pistole und ging auf den Weg zu, den sie überqueren mussten. »Ich gehe zuerst«, flüsterte Timo. »Warte einen Moment ab und komm dann nach. Es ist besser, wenn wir ein bisschen Abstand zueinander halten. Ich gehe links in einem Bogen, du rechts.«
Johanna nickte, und Timo bewegte sich vorsichtig weiter. Er hörte jetzt immer deutlicher Stimmen, das Rauschen wurde schwächer, aber er konnte noch immer nichts verstehen. An dem Zufahrtsweg, der sich durch den Wald schlängelte, duckte sich Timo und blickte nach beiden Seiten. Wegen des Dunstes war die Sicht nicht die beste, aber er nahm nichts Verdächtiges wahr. Rasch überquerte er den Weg und ging im Wald weiter, wo die Farne immer größer wurden. Er blieb stehen und wartete, bis Johanna den Weg überquert hatte und sich im Bogen auf die im Dunst schwebende Gebäudeansammlung zubewegte.
Timo ging weiter, bis er fast das Grundstück erreicht hatte. Die Stimmen im Ohrhörer waren immer besser zu verstehen. Es waren Männerstimmen, und sie sprachen offenbar Englisch. Aber noch immer blieb der Inhalt ihrer Worte unklar. Nun setzte Timo den Weg kriechend fort, denn es konnte sein, dass die unmittelbare Umgebung unter Bewachung stand. An der Natursteinmauer, die das Grundstück einfasste, bog er vorsichtig einige Zweige zur Seite. Ein unwirklicher Anblick tat sich vor ihm auf.
Zwischen hohen Bäumen mit säulenartigen Stämmen stand das villenartige, mit einem Turm versehene Gutshaus, daneben befanden sich ein Pferdestall und weitere Nebengebäude.
Rasch kroch Timo mit der Pistole in der Hand weiter. Der Geist einer versunkenen Welt lag über diesem Ort, aber er verflüchtigte sich im Nu, als Timos Ohrhörer stärker als zuvor zum Leben erwachte. Nun waren unter dem Rauschen bereits ganze Wörter zu hören. Die Intonation klang nun allerdings Russisch, bis Timo begriff, dass jemand Englisch mit russischem Akzent sprach.
»... ist nicht einfach. Pässe von Frauen sind schwerer zu kriegen als Pässe von Männern«, sagte die Männerstimme. »Der FSB hat wesentlich mehr männliche als weibliche Agenten ...« Timo glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Er drückte mit der Handfläche auf den Ohrhörer. Der FSB war der russische Geheimdienst, der Erbe des beim KGB für die Auslandsspionage zuständigen Ersten Direktorats.
»Das war nicht abgemacht, ihr könnt nicht davon ausgehen, dass wir plötzlich eine zusätzliche Identität beschaffen ...« »Als wir die Abmachung getroffen haben, wussten wir nicht, dass sie auffliegt«, erwiderte ein Mann, der besser Englisch sprach, unnachgiebig. »Ihr solltet die Dimensionen nicht vergessen . . . Ihr habt bekommen, was ihr wolltet, ihr habt ein strategisches Problem der zwischenstaatlichen Kategorie gelöst, und jetzt haben wir auf der Personenebene ein strategisches Problem . . . Ihr könnt sicher sein, dass Finnland in den nächsten fahren Abstand von der Nato halten wird. Ich denke, im Gegenzug müsste sich unser kleines Problem regeln lassen. Wir brauchen nur eine einzige neue Identität.«
Die Worte waren klar, aber ihre Bedeutung erschloss sich Timos Bewusstsein erst mit einigen Sekunden Verzögerung.
Moskau war an der Operation beteiligt gewesen! Das erklärte das Verhalten der Russen, nachdem die Maschine hinter der russischen Grenze verschwunden war. Ebenso lieferte es eine Erklärung für das Vorgehen der weißrussischen Behörden.
Timo drückte sich tiefer in das feuchte Laub und atmete durch. Das Attentat auf die Residenz
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