Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
Zuschlagen einer Wagentür, das Quietschen einer Straßenbahn.
Einer Straßenbahn!
Sowohl das Nebelhorn als auch das Geräusch der Straßenbahn waren aus der Nähe gekommen. In Turku aber erreichte man den Hafen nicht mit der Straßenbahn, es gab dieses Verkehrsmittel in der Stadt nicht einmal. Wenn Jankovic damals statt in Turku in Helsinki gewesen war, musste er sich den Hintergrundgeräuschen nach irgendwo in der Nähe des Hafens und des Marktes befunden haben.
War er auf dem Weg zur Fähre gewesen? Bei dem heutigen Preiskampf der Fluggesellschaften wählte niemand mehr, der nach Stockholm wollte, statt des Flugzeugs das Schiff, wenn ihm nicht gerade nach einer kleinen Ostseekreuzfahrt zu Mute war. Und schon gar nicht käme er zuvor von Turku nach Helsinki, denn von Turku gab es ebenfalls eine direkte Schiffsverbindung nach Stockholm.
Also war es möglich, sogar wahrscheinlich, dass sich Jankovic aus einem anderen Grund im südlichen Zentrum von Helsinki aufgehalten hatte. Und was der Grund auch gewesen sein mochte, der Mann hatte ihn verheimlichen wollen.
Aus einer Eingebung heraus suchte Johanna die Nummer von Mila Jankovic heraus und rief sie in Stockholm an. Sie versuchte erst gar nicht, den Grund ihres Anrufs zu verbergen, sondern kam direkt zur Sache. »Als Vasa zuletzt in Finnland war, um seinen Vater zu besuchen, kam er da per Schiff oder per Flugzeug zurück?«
»Mit dem Flugzeug natürlich. Wieso?«, fragte Mila erstaunt. »Ich kläre nur gerade ab, wo er wann war. Können Sie sich erinnern, ob an jenem Abend irgendetwas anders war als sonst?«
Mila überlegte kurz. »Nicht dass ich wüsste. Ich rief Vasa an, um nach unserem Vater zu fragen ... Ich habe meinem Vater gegenüber wohl trotz allem ein schlechtes Gewissen, obwohl gar kein Grund dafür besteht. Vasa war gerade in Arlanda gelandet ...«
»Wie spät war es da ungefähr?«
»Sechs oder sieben Uhr. In der Gegend.«
Falls Vasa tatsächlich von Helsinki aus mit Johanna telefoniert hatte, musste er von dort nach Stockholm geflogen sein, nicht von Turku aus. Das konnte man überprüfen, wenn es nötig werden sollte.
»Und weiter?«, fragte Mila erneut. »Warum klären Sie ab, wo Vasa wann gewesen ist?«
Johanna überdachte rasch die Situation. Sie glaubte an Milas ehrlichen Wunsch, sich von dem kaltblütigen Vorgehen des männlichen Teils ihrer Familie distanzieren zu wollen.
»Bei uns verdichten sich die Hinweise, dass Vasa an dem Versuch, Ihren Vater zu befreien, beteiligt war«, antwortete Johanna schließlich. Sie hätte gern gesehen, wie Mila auf ihre Worte reagierte, aber aus Zeit- und Geldgründen hätte sie wegen eines solchen Schusses ins Blaue nicht nach Stockholm fliegen können.
Mila war still.
»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«, fragte Johanna nach. »Na und? Was habe ich damit zu tun?«
Johanna erschrak über die Reaktion. Mila versuchte nicht einmal, sich überrascht zu geben. Johanna ärgerte sich, sie war zu sanft mit der jungen Frau umgegangen, als sie bei ihr zu Hause gewesen war. »Wir glauben, dass er wieder versuchen wird, den Oberst zu befreien«, sagte sie, als wäre das so gut wie sicher. »Beim letzten Versuch wurde eine schwangere Frau als Geisel genommen und schwer verletzt. Jetzt versuchen wir, eine ähnliche oder noch schlimmere menschliche Tragödie zu verhindern. Fällt Ihnen irgendetwas zu Vasa ein, was mit diesem Thema zu tun haben könnte? Er wird nie erfahren, dass Sie ...« »Das macht mir nichts aus, ich bin bereit, das alles auch Vasa ins Gesicht zu sagen. Das habe ich auch schon getan. Aber ich weiß von nichts. Vielleicht sollten Sie mal mit einer gewissen Jasmin reden, einer Finnin, die mit einem von Vasas Freunden zusammen ist. Normalerweise sind die Frauen von seinen Kumpels strohdoof, aber Jasmin macht einen relativ intelligenten Eindruck.«
»Erinnern Sie sich an den Nachnamen?« »Ranta. Aber da wäre vielleicht doch etwas, was mit dem Thema zu tun haben könnte ...«, sagte Mila vorsichtig. Johanna war plötzlich hellwach. »Vasa war vorgestern bei mir, seit langer Zeit mal wieder. Zwei Bilder von der Beerdigung hatte er dabei. Er benahm sich seltsam ... Wir haben über uralte Sachen geredet, über die Kindheit. Vielleicht war er noch von der Beerdigung erschüt
tert. Aber da war noch etwas anderes ... Als er ging, hatte ich das komische Gefühl... ihm wäre klar, nicht so bald wiederzukommen ...«
»Haben Sie versucht, Vasa danach noch einmal anzurufen?« »Ein paarmal.
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