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Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln

Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln

Titel: Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Geiseln
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würden.
    Der Priester erteilte dem Toten den letzten Segen. Vasas Blick schweifte über die Trauergäste. Außer den Geschwistern seiner Eltern kannte er kaum jemanden. Manche kamen ihm freilich bekannt vor: alte Freunde der Familie und Nachbarn, die alt geworden waren, aber deren Gesichter trotzdem unbestimmte Erinnerungen an die warmen Sommer seiner Kindheit heraufbeschworen.
    Vasa erschrak, als die Salutschüsse erschallten. Der Priester gab den Trägern ein Zeichen, und acht Männer, zwei davon in Offiziersuniform, ließen den Sarg langsam ins Grab hinab.
    Als sie die Seile heraufgezogen hatten, traten sie zurück. Der Priester setzte seine Zeremonie noch eine Weile fort, dann nickte er Vasa zu. Dieser ging ans Grab und nahm eine Handvoll Erde. Dann zwang er sich, auf den Sarg in der kalten Grube zu blicken. Radovans Lächeln fiel ihm ein, das Lächeln, das er nie wieder sehen würde.
    Als er den Kopf hob, sah er die Menschen um sich herum in neuem Licht: Sie trugen alte, schäbige Anzugjacken, die hier und da gestopft waren. Er sah vorzeitig gealterte Menschen, arm und krüpplig, er sah Frauen, die angesichts Radovans Sarg um ihre eigenen verlorenen Söhne weinten.
    Mit Macht kam Vasa wieder die Erschütterung in den Sinn, die er am Tag zuvor beim Anblick seines ruinierten Elternhauses erlebt hatte. Die Wände hatten große Löcher gehabt, durch die albanische Plünderer das Hab und Gut abtransportiert hatten. Möbel, Geschirr, sogar Fotoalben hatten sie mitgenommen. Vasa hatte um Atem ringen müssen, als er sein geschändetes Zuhause sah. Erinnerungen an den internationalen Wirtschaftsboykott waren ihm in den Kopf geschossen, an die Zeit, als das Leben ein einziger Überlebenskampf gewesen war: Hunger, kaputte Kleider, Schwarzhändler, Feldküchen des Roten Kreuzes, Familien, die in Mülltonnen wühlten. Die Väter hatten vor Hilflosigkeit geweint, weil sie ihren Familien nichts zu essen beschaffen konnten.
    Seit jener Zeit hegte Vasa einen tiefen Hass gegen Slobodan Milosevic, der sein eigenes Volk an den Abgrund getrieben und aus Serbien einen Schurkenstaat gemacht hatte. Das ganze Volk war Opfer seiner Kriegspolitik geworden, wegen seines Anführers hatte es seinen Stolz verloren, seinen Besitz und seine Ehre.
    Die Gefühle und Erinnerungen überrollten Vasa mit niederschmetternder Wucht. Er musste an die Beerdigung seiner Mutter denken. Er besaß eine Videokassette davon, hatte sie aber nie angeschaut. Jetzt sah er den Namen seiner Mutter auf dem Grabstein und dachte, wie vollkommen seine Familie und sein ganzes Geschlecht zum Opfer von Zerstörung, Scham und Demütigung geworden waren. Die Bombardements der Nato hatten zwölf von ihnen hinweggerafft - die Mutter unter ihnen.
    Jetzt hatte seine Schwester die Verbindung zur Familie abgebrochen, und sein Vater saß im fernen Finnland in einer kleinen Zelle und durfte nicht einmal zur Beerdigung seines Sohnes kommen. Und Radovan, sein Bruder, lag als kalter Leichnam vor ihm im Grab. Alle, die um ihn herumstanden, hatten ähnliche Schicksalsschläge zu verkraften, Freunde und Bekannte, die hilfsbereiten Nachbarn und die Spielkameraden aus der Kindheit, die sich nun als untröstliche menschliche Wracks dahin-schleppten. Vasa blickte zu der Mauer hinter der elenden Trauergemeinde und darüber hinaus auf die Dorfstraße. In Vasas Kindheit war sie belebt und fröhlich gewesen, eine Straße mit schönen Häusern und Blumen davor. Jetzt wurde sie von ruinierten Häusern gesäumt, deren Bewohner ängstlich und resigniert dem Winter entgegensahen. Im Grau dieses Tages kamen die kahlen Stümpfe der zerschossenen oder für Brennholz gefällten Bäume noch deutlicher zur Geltung.
    Plötzlich hatte Vasa das sichere Gefühl, dies alles schon einmal gesehen zu haben. Der Anblick erinnerte ihn in verblüffender Weise an ein Gemälde von Mila, auf dem es ihr gelungen war, die unbeschreiblich beklemmende Atmosphäre einzufangen.
    Vasa stand mit der Erde in der Hand am Grab und vermochte sich nicht zu rühren. Ein leichtes Raunen ging durch die Menschenmenge. Dann hörte man in der Ferne ein rhythmisches Geräusch, das näher kam und immer lauter wurde. Vasa fuhr zusammen. Ein Hubschrauber. Die Trauergäste spähten zum Himmel. Zwei große Helikopter der KFORTruppen donnerten über den Friedhof hinweg. Sie flogen einen Bogen, kehrten zurück und tauchten noch tiefer den Köpfen der Trauernden entgegen.
    Vasa konnte im offenen Bugteil den schwarzen Helm und die schwarze

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