Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
warteten mit Vasa auf die Stunde X. Drei von ihnen wohnten in der Albertinkatu und zwei in der Bernhardinkatu, in Wohnungen, die Jasmin von verreisten Bekannten gemietet hatte.
Zlatan legte sein Buch zur Seite und streckte die Hand aus. Stanko gab ihm die Zeitung.
Während der letzten Tage waren sie alle in Finnland geblieben, denn ohne Pass war es schon etwas riskant zu reisen. Nur Zlatan war einmal weg gewesen - in Serbien, um den Unfall zu inszenieren. Wegen seines Hintergrundes hatte er über die besten Kontakte und Voraussetzungen dafür verfügt. Anschließend, am 30. November, war Zlatan mit falschem Pass von Belgrad nach Helsinki geflogen.
Vasa selbst war am Tag zuvor mit seinem Landrover von Stockholm nach Finnland gekommen, nachdem er die letzten Vorbereitungen getroffen hatte. Er war noch immer erschüttert, weil er gemerkt hatte, dass Stankos Frau längst einen Tröster parat hatte - ohne dass Stanko auch nur das Geringste von ihrem Verhältnis ahnte. Fieberhaft überlegte Vasa, wann beziehungsweise ob überhaupt er dem armen Kerl die bittere Wahrheit sagen sollte.
Vorläufig jedenfalls nicht, denn die Stimmung in der Gruppe war äußerst empfindlich und dabei beinahe innig. Keiner von ihnen konnte zurück, denn was einmal war, gab es nicht mehr. Sie hatten nur einen einzigen Weg vor sich. Alle waren nervös, versuchten aber, den Druck nicht an den anderen abzulassen. Konflikte untereinander konnten sie sich jetzt nicht mehr leisten. Ihr Feind wartete draußen.
24
6. Dezember. Der Unabhängigkeitstag.
Johanna mochte keine Feiertage. Wofür sollte es gut sein, dass sich die Leute scharenweise in ihre Familien zurückzogen und die ganze Stadt die Türen schloss? Warum merkte niemand, dass sich die Struktur der Gesellschaft verändert hatte? In der Stadt gab es eine Menge Menschen, die keine Familie hatten und über die Feiertage lieber etwas anderes getan hätten, als das Unterhaltungsangebot der eigenen vier Wände in Anspruch zu nehmen. Von ihren Gedanken in Rage geraten, warf Johanna die Frauenzeitschrift, in der sie gelesen hatte, in hohem Bogen in die Ecke. Rezepte für die feierlichen Stunden im Kreis der Familie.
Während sie noch laut fluchte, musste sie auch schon fast anfangen zu lachen. Sah so das fantastische freie Leben eines immer noch jungen, intelligenten Singles mit ordentlichem Einkommen aus? Dass man die Leute, die Familie hatten, ausgerechnet in den Stunden verwünschte, in denen man seine Freiheit endlich einmal genießen konnte? Johanna beschloss, das Lamentieren bleiben zu lassen und den Tag zu nutzen, an dem sie mit gutem Gewissen einfach nichts tun konnte. Sie hatte lange geschlafen, war bei kaltem, windigem Wetter joggen gewesen und hatte später fast eine Stunde lang mit ihren Eltern und einigen Freunden telefoniert.
Nachdem sie die zur Feier des Tages bei Stockmann gekaufte SushiPortion gegessen und auf der Couch ein Schläfchen gemacht hatte, legte sie die DVD mit dem Film >Capote< ein und schaltete den Fernseher an. Auf dem Bildschirm erschien ein Reporter. Er stand vor der festlich erleuchteten Residenz des Präsidenten.
»... beginnt um 18:50 Uhr die Live-Übertragung vom Empfang des Präsidenten anlässlich des Unabhängigkeitstags. Hier vor der Residenz hat es seit zwei fahren keine Demonstrationen mehr gegeben, aber die Polizei ist diesmal in außergewöhnlich schwerer Ausrüstung vor Ort. Umtriebe von Aktivisten des so genannten Präkariats haben dafür gesorgt...«
Das Fernsehbild sprang um, und es erschien der Text, der dem Anfang des Films vorausging: »Warnung! Die unerlaubte Kopie dieses Datenbildträgers ...«
Die Feierlichkeiten in der Residenz interessierten Johanna kein bisschen, aber sie drückte dennoch die Stopp-Taste, um das Fernsehbild zurückzuholen. Irgendein störender Gedanke machte sich in ihrem Hinterkopf bemerkbar.
Der Reporter vor der Residenz sprach weiter, aber Johanna achtete nicht auf die Worte des Mannes, sondern lauschte genau auf das, was man im Hintergrund hörte.
Nichts weiter als ein gedämpftes Gewirr von Geräuschen.
Aber gerade war da ein vertrauter Ton gewesen - das tiefe Tuten der Fähre nach Schweden, ein Geräusch, das bei Johanna stets Reisefieber auslöste.
Diesmal brachte es ihr jedoch etwas anderes in Erinnerung. Sie hörte plötzlich Vasa Jankovics Stimme am Telefon: Ich bin noch in Turku ... Damals hatte sie im Hintergrund genau so ein Tuten gehört, dazu Verkehrsgeräusche - das Dröhnen eines Lkws, das
Weitere Kostenlose Bücher