Remes, Ilkka - 8 - Tödlicher Sog
Wahrheit sagten. Um Irritationen zu vermeiden, hat die Kommission in einigen Berichten Details verändert...
Bestürzt las Kimmo die Sätze noch einmal. Toomas' Behauptungen erschienen plötzlich in ganz neuem Licht. Er schlug den Bericht auf Seite 129 auf, wo es um den Zustand der Innenräume des Wracks ging. Toomas hatte folgende Stelle unterstrichen:
Das Autodeck ist nicht untersucht worden, weil die Arbeit der Taucher dort zu riskant gewesen wäre. Darum ist nicht bekannt, ob die Lkws durch die Halterungen an Ort und Stelle festgehalten werden konnten.
Auf einen danebengeklebten gelben Zettel hatte Toomas geschrieben: »Lüge. Das Autodeck wurde untersucht, s. Videoband D13, 3.12.1994,1 h 32 min sowie Kommentar im Tauchtagebuch.«
Kimmo nahm ein eingelegtes Blatt Papier aus dem Büchlein, auf dem zentrale Kritikpunkte zu dem Bericht zusammengefasst waren: Hätte man die Wahrheit offen und professionell herausfinden wollen, hätte man allen Geretteten eine einheitliche, systematische Tragenbatterie vorgelegt. Stattdessen benutzte man als Schlüsselzeugen einen Wachmatrosen, der seinen Bericht mehrfach veränderte, u. a. bei den kritischen Zeitangaben zum Ablauf der Ereignisse. Später gab derselbe Zeuge eine eidesstattliche Erklärung ab, in der er aussagte, ein Vertreter der estnischen Sicherheitspolizei habe ihn unter Druck gesetzt und gezwungen, die Zeitangaben in seiner Aussage zu modifizieren.
Der Vorschlag des schwedischen Psychologen und Kommissionsmitglieds Bengt Schager, den Zeugen anzuhören, wurde von der Kommission abgelehnt. Schager trat zurück, er wollte nicht für eine Untersuchung verantwortlich sein, bei der wichtige Zeugen nicht gehört wurden.
Wollte die Kommission bestimmte Passagiere nicht anhören, weil der zentrale Inhalt ihrer Zeugenaussagen im Widerspruch
zu der Gesamtaussage stand, die die Kommission vertrat? So ließ die Kommission zum Beispiel Aussagen von elf Geretteten
unberücksichtigt, in denen geschildert wurde, dass gleich zu Beginn des Unglücks, noch bevor sich das Schiff stark neigte, Wasser in den Kabinentrakt unter dem Autodeck eindrang. Die Darstellung von den Geschehnissen auf Deck i im Abschlussbericht der Kommission widerspricht den detaillierten Zeugenaussagen. Das Eindringen des Wassers auf Deck 1 ließe sich durch ein Loch im Rumpf erklären. Mit wachsendem Interesse griff Kimmo nach einem von Toomas' Ordnern, schlug ihn in der Mitte auf und überflog eine Fotokopie: Es ist eine unabweisbare Tatsache, dass die schwedische Armee die Estonia, ein Zivilschiff, dazu benutzte, äußerst umstrittene russische Militärtechnologie zu schmuggeln, und somit die Sicherheit von Passagieren und Besatzung eklatant gefährdete.
Die Transporte versuchte man zu verheimlichen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die schwedischen Streitkräfte bei allen Maßnahmen, die im Anschluss an das Unglück ergriffen wurden, eine zentrale Rolle einnahmen. Als Berater von Ministerpräsident Carl Bildt fungierte unmittelbar nach der Katastrophe u. a. ein Kommandant, der früher bei der Materialbeschaffung der Streitkräfte tätig gewesen war. Als Sprecher der schwedischen Kommissionsvertreter wurde ein Beamter des Verteidigungsministeriums eingesetzt. Die Schweden führten die Suche nach dem Visier als geheime Operation durch, bei der sogar ein Marinekommandant beteiligt war. Der Kontakt zwischen den Behörden und den Angehörigen der Opfer wurde an die Abteilung für psychologische Verteidigung im Verteidigungsministerium delegiert, die auf Medienkontrolle, psychologische Kriegsführung, Meinungsmanipulation und Propaganda spezialisiert ist. Als Nachfolger des 1997 ausgeschiedenen Sprechers wurde ein Mann aus der Rechtsabteilung des Verteidigungsministeriums benannt. Kimmo fuhr aus seinen Gedanken auf, als Sirje sagte: »Wegen des Schicksals unseres Vaters war das hier eines der Dokumente, die Toomas am meisten interessierten.«
Sie wischte sich ein paar Tränen von der Wange und zeigte Kimmo eine Fotokopie aus einer schwedischen Tageszeitung: »Aftonbladet Extra«, 28.9.1994, Seite 17. Die Zeitung vom Tag des Unglücks, eine Sonderausgabe. »Darüber hat Toomas immer wieder gesprochen ...«
Kimmo überflog den ganzseitigen Artikel, der von einem Mann namens Kenneth Svensson berichtete, einem Rettungssoldaten, der vom Marinestützpunkt Berga zum Unglücksort gekommen war. Der Artikel war nur wenige Stunden nach dem Untergang des Schiffes entstanden. Das Foto zeigte einen
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