Remes, Ilkka - 8 - Tödlicher Sog
etwa dreißigjährigen Mann mit nassen Haaren. Kurz nach zwei Uhr in der Nacht war er alarmiert worden, eine Stunde später hatte sein Helikopter den Unglücksort erreicht. Er berichtete, er habe beim ersten Flug acht Menschen gerettet, die ins Krankenhaus nach Hudding gebracht worden seien. »Was ist daran so wichtig?«, fragte Kimmo.
Sirje seufzte. »Toomas ist der Meinung, dass die ersten Berichte die zuverlässigsten sind. Aber im Abschlussbericht wird der Rettungsflug, den Kenneth Svensson schildert, überhaupt nicht erwähnt. Er hat angeblich gar nicht stattgefunden. Alle anderen Rettungsflüge hat man im Abschlussbericht in einem Schema dargestellt, einschließlich der Anzahl der Geretteten.« Sirje fuhr mit dem Finger über die Tabelle, aus der hervorging, dass Svenssons Helikopter einen Menschen gerettet hatte.
»Eine von beiden Seiten lügt«, sagte Sirje. »Entweder log Retter Svensson am Morgen nach dem Unglück, um sich selbst zum Helden zu machen, oder aber die Untersuchungskommission lieferte fehlerhafte Informationen.« Kimmo nahm den Ordner mit dem Zeitungsausschnitt und blätterte darin weiter. Nur wenig später stutzte er. »Immerhin blieben die Offiziellen bis zum Schluss konsequent bei ihrer Version«, meinte Kimmo angesichts eines Zeitungsartikels, der davon berichtete, wie Rettungsflieger Svensson die Tapferkeitsmedaille für seinen Einsatz beim Untergang der Estonia verliehen wurde. Dem Text zufolge hatte er einen Menschen gerettet.
»Toomas hat nie vergessen zu erwähnen, dass die Medaille von demselben Mann verliehen wurde, der als Chef der Streitkräfte mit dem Zoll Vereinbarungen über die geheimen Transporte getroffen hatte.« »Und was hat das Toomas' Meinung nach alles zu bedeuten? Heißt das, dass euer Vater zusammen mit einigen anderen per Hubschrauber gerettet wurde und dass dann die ganze Gruppe verschwand?«
»Ich habe immer gedacht, das sind Hirngespinste von Toomas. Aber vielleicht hatte er doch gute Gründe für seine Ansicht.«
»Wir müssen uns jetzt auf Julia konzentrieren ...«
»Julia hat versucht, das Schicksal ihres Großvaters zu ergründen. Das hängt alles miteinander zusammen.«
Sirje wirkte nun plötzlich stark und entschlossen, was Kimmo einerseits erleichterte, ihm aber auch ein wenig Sorgen machte. Sie nahm einen anderen Ordner aus dem Regal, und Kimmo blätterte in dem weiter, in dem er bisher gelesen hatte. Es war zweifellos außergewöhnlich, dass man die geretteten Passagiere in Stockholm wie Verbrecher behandelt hatte. Im Krankenhaus wurden sie so total isoliert, dass sich die Estnische Botschaft in Stockholm veranlasst sah, dem schwedischen Außenministerium drei Tage nach dem Untergang eine diplomatische Note zu übergeben. Darin verlangten die Esten eine Erklärung für die Weigerung der schwedischen Behörden, dem estnischen Botschaftsrat Alar Streiman die Namen der geretteten und in schwedischen Krankenhäusern untergebrachten Personen zu nennen und Besuche bei ihnen zuzulassen.
In der Tat: warum nur? Man stelle sich bloß vor, nach dem Busunglück in Malaga, dem im April 2008 neun finnische Urlauber zum Opfer gefallen waren, hätten die spanischen Behörden sich geweigert, Informationen über die geretteten finnischen Businsassen herauszugeben und Besucher zu ihnen ins Krankenhaus zu lassen. Wären die Spanier so weit gegangen, dass sich Finnland gezwungen gesehen hätte, eine diplomatische Note zu übergeben hätte man das einfach so hingenommen, ohne eindeutige Erklärungen zu verlangen?
»Sieh dir das an«, sagte Sirje und zeigte Kimmo weitere Kopien, die sie in ihrem Ordner entdeckt hatte. »Auf der Estonia wurde am Abfahrtstag in Tallinn eine technische Kontrolle vorgenommen, bei der zwei Mitarbeiter der Schwedischen Seefahrtsbehörde im Rahmen einer Schulung einige Esten in die Abläufe der Kontrolltätigkeiten einführten. Alle zutage getretenen problematischen Punkte wurden in einem Protokoll festgehalten.« Sirje deutete auf eine Tabelle. In einer Spalte waren darin von Hand zahlreiche Eintragungen vorgenommen worden. »Diese Spalte wird nur ausgefüllt, wenn das betreffende Schiff im Hafen bleiben muss, bis alle Mängel behoben sind. Laut diesem originalen Prüfungsprotokoll hier war die Estonia zum damaligen Zeitpunkt seeuntauglich.«
Kimmo sah zu, wie Sirje umblätterte. »Aber dieses Originalprotokoll lag dem Bericht der Kommission nicht bei. In der Anlage zum Kommissionsbericht findet sich ein anderes Protokollformular, nämlich
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