Remes, Ilkka - 8 - Tödlicher Sog
das hier«, erklärte Sirje und wies auf die Seite, die sie aufgeschlagen hatte. »Und darauf fehlen alle kritischen Eintragungen.«
Kimmo war überrascht. Wenn im Nachhinein bekannt geworden war, dass man hier Veränderungen vorgenommen hatte, hätte die Kommission der Sache natürlich auf den Grund gehen müssen. Es war aber nichts geschehen. »Ich weiß nicht, was ich denken soll«, seufzte Kimmo. »Warum hat Julia uns nicht erzählt, dass sie sich mit der Estonia beschäftigt?«
Sirje sagte, ohne ihren Mann anzuschauen: »Sie hat darüber gesprochen. Irgendwann letztes Jahr bat sie mich, ihr alles zu erzählen, was ich noch von damals weiß. Ich redete um den heißen Brei herum, als mir klar wurde, dass Toomas mit ihr gesprachen hatte. Ich wollte nicht, dass er Julia für seine wilden Theorien begeistert. Auch dir habe ich nichts davon gesagt. Ich wusste ja, was du von Toomas hältst.«
»Das heißt, dass Julia vielleicht irgendwo noch Material zur Estonia aufbewahrt hat. Wo könnte das sein?«
»Im Computer wahrscheinlich.«
»Die Polizei hat ihn untersucht.«
»Wie hätte die Polizei auf die Idee kommen sollen, nach solchem Material zu suchen? Außerdem konnte sie ja nichts von der Brisanz derartiger Unterlagen wissen.«
Ein Geräusch ließ Kimmo zusammenfahren. Jemand schloss die Wohnungstür auf.
»Wer ist das?«, fragte Sirje flüsternd.
Kimmo erreichte den Flur in dem Moment, in dem die schon halb offene Tür wieder geschlossen wurde.
Der Ankömmling hatte ihn bemerkt. Kimmo war mit wenigen Sätzen an der Tür und riss sie auf. Er hörte jemanden die Treppe hinunterrennen. Besorgt schloss Kimmo die Wohnungstür wieder und kehrte ins Schlafzimmer zurück, wo Sirje erschrocken wartete.
»Wer war das?«
»Keine Ahnung. Wir nehmen ein paar Ordner mit und verschwinden von hier.«
Kimmo stapelte mehrere Ordner auf seinem Arm. Er hatte kurz überlegt, dem Eindringling zu folgen, aber dann hätte er Sirje allein lassen müssen. Allmählich sah es so aus, als wäre an den Theorien von Toomas wirklich etwas dran.
40
Schwitzend und hilflos lag Claus Steglitz in dem dunklen Abstellraum des Krankenhauses. Er hatte versucht, sich zu befreien, aber der junge Finne hatte ihn gefesselt wie ein Routinier. Die Packungen mit den Skalpellen hatten die beiden Männer ans andere Ende des Raums geworfen, bevor sie gegangen waren. Trotzdem hatte Steglitz gehofft, es würden noch verpackte Chirurgenmesser im Regal liegen.
Ein ums andere Mal hatte er gegen das Regal getreten. Verschiedene Sachen waren um ihn herum auf den Boden gefallen, aber es war nichts Scharfes oder Spitzes darunter.
Wie hatte er nur so kläglich versagen können? Es hätte so einfach sein sollen, an die Kassette zu kommen. Als er gesehen hatte, wie Airas in Toomas' Krankenzimmer die Kassette in eine Plastiktüte steckte, hatte er innerlich dem Schicksal für die günstige Wendung gedankt. Er hatte beschlossen, auf dem Gang zu warten und sich dann einfach die Tüte mit der Kassette zu schnappen. Die Männer waren aus dem Zimmer gekommen, und er war ihnen in den Aufzug gefolgt, aber dort hatte dann eine blödsinnige Krankenschwester angefangen, ihm Fragen zu stellen.
Als er den Männern schließlich in den Kellergang gefolgt war, hatte er gezögert; Sicherheitskameras waren zwar keine zu sehen gewesen, aber die Männer waren zu zweit, und er hatte seine Waffe im Wagen gelassen. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass es in einem Land wie Finnland besser war, nicht ständig mit einer Waffe herumzulaufen, denn falls man damit erwischt wurde, zog das unschöne Ermittlungen nach sich.
Steglitz hatte beschlossen, zu handeln, denn später wäre es womöglich noch schwieriger geworden. Es hatte keinen Grund gegeben, mehr Gewalt anzuwenden, als nötig war, um an die Kassette und den Briefumschlag zu kommen. Bei Bedarf hätte man die Männer später noch zum Schweigen bringen können, mit Plan und Strategie.
Steglitz wusste, dass er einen klassischen Anfängerfehler begangen hatte: Er hatte den Gegner unterschätzt.
Plötzlich ging die Tür des Abstellraums auf. Steglitz fuhr zusammen. Er blinzelte in das vom Gang hereinscheinende Licht.
In der Tür stand eine Frau und stieß bei seinem Anblick einen erschrockenen Schrei aus.
Kurz hatte es Anschein, als würde die Frau auf dem Absatz kehrtmachen, aber zum Glück fand sie den Mut, näher zu kommen.
»Was ist denn hier passiert?«
Steglitz wartete ungeduldig, dass die Frau ihn von den Fesseln befreite.
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