Renate Hoffmann
mitteilte. Dieser lächelte und fuhr los in Richtung See.
Nachdem sie schwimmen gegangen waren, legte Renate sich auf die große, kratzige Decke, die Herbert im Kofferraum aufbewahrte und schaute in die Baumkronen. Und dann passierte es. Es war so unfassbar, dass Renate zu atmen vergaß. Herbert rollte sich zu ihr, stütze sich über ihr ab und küsste sie. Es schien ihm zu anstrengend geworden zu sein, den perfekten Moment abzupassen. Dieser Kuss war feucht und unbeholfen gewesen. Herberts Zunge fühlte sich an wie Schmirgelpapier und seine Lippen bedeckten ihr halbes Gesicht. Renate überlegte, ob sie eine Ohnmacht simulieren sollte, entschied sich aber dagegen, weil sie sich nicht sicher war, ob ihr schauspielerisches Talent ausreichen würde, um Herbert zu überzeugen.
Seit diesem unbeholfenen, nassen Kuss am Seeufer waren Herbert und Renate ein Paar gewesen, was unter anderem auch bedeutete, dass Renate von diesem Augenblick an viele solcher nassen und unbeholfenen Küsse hatte über sich ergehen lassen müssen.
Renate seufzte. Sie saß an ihrem Schreibtisch. In diesem Zimmer hatte sie den größten Teil der vergangenen drei Jahre verbracht. Sie hatte viel gelernt, auch wenn die Ausbildung nicht ihre Idee gewesen war. Renate hatte nie Buchhalterin werden wollen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie Medizin studiert. Doch weil es nicht nach ihr, sondern nach ihren Eltern ging, hatte sie nicht studiert, sondern etwas Handfestes gelernt. Ihre Eltern waren nämlich der Meinung gewesen, dass eine große Stadt wie München viel zu gefährlich für ihre Renate gewesen wäre. Außerdem hatten sie ohnehin nie verstehen können, warum Renate unbedingt aufs Gymnasium hatte gehen wollen, wo doch die Regelschule für ein Mädchen bei Weitem ausreichte. Also hatte Renate klein beigegeben und war dem Rat ihres Vaters gefolgt, etwas Solides zu lernen. Günther redete mit einem seiner Freunde vom Stammtisch und zwei Wochen später begann Renate ihre Ausbildung zur Buchhalterin.
Kapitel 36
Herr Bichler überreichte Renate ihr Zeugnis. Sie fragte sich, ob die Tatsache, dass sie die Tochter eines Freundes war, dazu beigetragen hatte, dass sie so gut bewertet worden war. Sie fragte sich ferner, ob sie dieses Zeugnis überhaupt brauchte, da sie in wenigen Monaten Dreikornleibe verkaufen würde. Dennoch lächelte sie und bedankte sich für die Bewertung. Herr Bichler versicherte ihr, dass sie sie sich redlich verdient hätte, und fragte Renate, ob sie es sich vorstellen könne auch weiterhin bei ihm beschäftigt zu sein, was sie strahlen annahm. Denn alles wäre Renate lieber gewesen, als ihrem zukünftigen Gatten den ganzen Tag ausgesetzt zu sein.
Als Renate jedoch am Abend desselben Tages ihre frohe Botschaft beim Abendessen verkündete, stieß sie auf verständnislose Gesichter. Günther räusperte sich. „Das kannst du nicht machen, Renate“, sagte er deutlich. Renate hatte damit gerechnet. Sie hatte gewusst, dass ihre Eltern sie nicht unterstützen würden. Sie hatte gewusst, dass sie der Ansicht waren, dass sie, wenn sie Herbert erst einmal geheiratet hätte, höchstens in der Bäckerei arbeiten würde, wenn sie überhaupt arbeiten würde. Denn eigentlich erwarteten sie sich, dass sie binnen der kommenden zehn Monate stolze Großeltern werden würden, und das im jährlichen Turnus, so lange, bis ein kleiner Sohn das Licht der Welt erblicken würde.
„Was werden denn die Leute denken, wenn du nicht bei deinem Mann in der Bäckerei arbeitest?“, fragte Helga bestürzt. Für Renates Mutter gab es nichts Wichtigeres, als das, was die Leute dachten. Renate war sich zwar sicher, dass die meisten der Ansässigen den Großteil des Tages überhaupt nichts zu denken pflegten, sagte aber nichts. „Renate, du musst dem Hans morgen sagen, dass du leider nicht weiter bei ihm arbeiten kannst“, sagte Helga angespannt. „Der Hans wird das schon verstehen, wennst ihm sagst, dass du jetzt mit dem Herbert verlobt bist...“ Renate schaute aus dem Fenster. Und in diesem Moment wünschte sie sich zu sterben. Sie wünschte sich, an diesem Abend friedlich einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen.
Renate hatte noch immer Todessehnsucht, als es eine Stunde später an der Tür klingelte. Der tiefe Wunsch zu sterben intensivierte sich noch zusätzlich, als Herbert seinen runden Kopf in ihr Schlafzimmer steckte. „Renate-Schatz...“, sagte er und trat ein. Er kam auf sie zu und schürzte die Lippen. Renate wandte sich mit der
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