Renate Hoffmann
ihrem Esstisch und starrte auf die Überschrift einer der Tageszeitungen, die sie am Abend zuvor in den Müll geworfen hatte, nur um sie an diesem Tag wieder hervorzukramen. Sie hielt noch immer ihre halbvolle Kaffeetasse in der Hand. Münchner Familie bei schwerem Autounfall tödlich verunglückt. Gestern ereignete sich am späten Nachmittag ein schwerer Unfall auf der A9 in Richtung Nürnberg, der eine vierköpfige Familie aus München das Leben kostete. Der Fahrer des PKWs, Henning W. wurde von einem ins schleudern geratenen Transporter von der Fahrbahn bedrängt und raste in einen Brückenpfeiler. Die Beifahrerin, Monika W. und deren beiden Kinder erlagen noch an der Unfallstelle ihren schweren Verletzungen. Hennig W. verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus im Rettungswagen. Der Unfallverursacher blieb unverletzt.
Frau Hoffmann stellte die Tasse ab, schob die Schere ein Stück zur Seite, schraubte den Deckel von einer eingedrückten Uhutube und verteilte eine dünne Schichte Klebstoff auf der Rückseite des Schnipsels. Wenig später drückte sie den Ausschnitt mit spitzen Fingern auf die nächste leere Seite in ihrem Album.
Ihr Blick fiel auf den Trauernachruf, den sie einige Tage zuvor ausgeschnitten und eingeklebt hatte. Noch nie zuvor hatte sie in so kurzer Zeit gleich zwei solcher Nachrichten gefunden. Sie schlug das Album zu und verstaute es im Regal. Dann nahm sie ihre Tasche, überlegte, ob sie ihren Mantel brauchen würde, entschied sich dagegen und verließ die Wohnung.
Dreiunddreißig Minuten später betrat Frau Hoffmann ihr Büro. Sie schaltete sofort ihren PC an und machte sich an die Arbeit, hauptsächlich deswegen, weil sie versuchen wollte nicht mehr an den Artikel zu denken, den sie kurz zuvor gelesen und ausgeschnitten hatte. Doch es gelang ihr nicht. Sie würde den gesamten Tag daran denken, ganz gleich wie sehr sie versuchen würde sich abzulenken.
Pünktlich zur Mittagspause klopfte Frau Kleinschmidt aus der Finanzabteilung an Frau Hoffmanns Tür. Schweigsam gingen sie zum Aufzug. Frau Kleinschmidt schien zu bemerken, dass Frau Hoffmann bedrückt war, traute sich jedoch dem Anschein nach nicht nachzufragen, was geschehen sei. Stattdessen gingen die beiden Frauen schweigend zum Italiener an der Ecke. Seit Langem hatte sich Frau Hoffmann nicht mehr so elend gefühlt. Das, was sie empfand war weniger ein Gefühl von Trauer, als unbändige Wut.
Frau Kleinschmidt räusperte sich. Frau Hoffmann war durchaus bewusst, dass ihr Schweigen dazu führte, dass Frau Kleinschmidt sich mit der Zeit immer unbehaglicher fühlte. Und obgleich es nicht ihre Absicht war, andere mit ihrer Stimmung anzustecken, konnte sie nicht anders, als zu schweigen. Vielleicht war das auch damit verbunden, dass Frau Hoffmann sich nicht sicher war, ob sie ihre Empfindungen weiter unterdrücken konnte, würde sie erst einmal darüber sprechen.
„Ich weiß, Sie kennen mich nicht gut, Frau Hoffmann...“, sagte Frau Kleinschmidt, nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, „...doch vielleicht hilft es, wenn sie über das sprechen, was sie dermaßen belastet...“ Frau Hoffmann schaute ihr in die Augen. Sie wusste, dass sie Frau Kleinschmidt vertrauen konnte. Sie wusste, dass für Frau Kleinschmidt Verschwiegenheit zum guten Ton gehörte. Frau Hoffmann spürte den Kloß in ihrem Hans anwachsen. Sie spürte, wie sich die Tränen durch ihre Tränenkanäle quetschten. Frau Kleinschmidt schien zu realisieren, dass Frau Hoffmann unmöglich über das sprechen konnte, was sie von Innen zu zerfressen schien. Zumindest nicht an diesem Tag. Frau Kleinschmidt fasste das nicht als persönliche Ablehnung auf. Sie wusste zwar nicht, was Frau Hoffmann bedrückte, aber vielleicht war es einfach noch nicht an der Zeit darüber zu reden. Und weil Frau Kleinschmidt eine aufmerksame und einfühlsame Frau war, lächelte sie Frau Hoffmann freundlich an und brach deren eisiges Schweigen. „Bernd und ich, das ist mein Mann, also nein, vielmehr mein Exmann, wir haben zwei Töchter...“, sagte Frau Kleinschmidt zusammenhangslos. „...das hat die Trennung zusätzlich erschwert...“ Frau Hoffmann war dankbar. Sie war dankbar dafür, dass Frau Kleinschmidt sie zu verstehen schien. Und das ganz ohne Worte. „Hatte ich schon erwähnt, dass Bernd wieder geheiratet hat...“ In ihrer Stimme vibrierte die Verletztheit. Frau Hoffmann schüttelte den Kopf. „Ich habe mir lange vorgemacht, dass mich das nicht stört...“ Frau Hoffmann nickte.
Weitere Kostenlose Bücher