Renate Hoffmann
desto sicherer war sie sich.
Kapitel 42
Mit zitternden Fingern fischte Frau Hoffmann den Brief aus dem Umschlag. Sie entfaltete das Papier, dann begann sie zu lesen. Liebe Renate, da du auf meinen letzten Brief nicht geantwortet hast... Frau Hoffmann legte den Brief zur Seite und öffnete den zweiten Umschlag. Sie zog eine einzelne Seite hervor, die in der Mitte gefaltet war. Liebe Renate, ich weiß, es ist lange her, und ich weiß, dass die Umstände, unter denen wir uns das letzte Mal gesehen haben, nicht die angenehmsten waren, und normalerweise würde ich mich auch nicht einmischen, doch es ist etwas passiert, das dich meiner Meinung nach etwas angeht. Barbara ist schwer krank... Frau Hoffmann erschrak, als sie das las. Seit Jahren hatte sie nicht mehr mit ihrer Schwester gesprochen. Sie hatte ihr auch nie geschrieben, und sie hatte es auch nicht vorgehabt. Doch in Frau Hoffmanns Vorstellung war Barbara auch nicht krank gewesen. In ihrer Vorstellung hatte Barbara die Illusion des perfekt engstirnigen Dorflebens gelebt. Und in dieser Illusion wurde man nicht krank. Man erlitt des Öfteren Krämpfe im Wangenbereich, weil man ununterbrochen damit beschäftigt war, die anderen glauben zu machen, dass man weder Sorgen noch Kummer hätte. Doch krank wurde man nicht. In Frau Hoffmanns Vorstellung hatte sie tagein tagaus Dreikornleibe und Butterhörnchen verkauft. Wir haben natürlich verschiedene Ärzte aufgesucht, doch keiner scheint zu wissen, was ihr fehlt. Das einzige, in dem sie sich einig sind, ist dass es sich um etwas Ernstes handelt. Frau Hoffmann versuchte sich das Gesicht ihrer kleinen Schwester vorzustellen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie es einmal zwischen ihnen gewesen war, damals, bevor alles sich geändert hatte. Ich glaube, es würde ihr viel bedeuten, wenn du kommen würdest. Ich weiß, dass ich damit viel von dir verlange, vielleicht auch zu viel, nach allem, was vorgefallen ist. Das stimmte. Es war viel verlangt.
Frau Hoffmann las den dritten Brief, als plötzlich das Telefon neben ihr anfing zu klingeln. Sie zuckte unvermittelt zusammen und warf dabei den Brief unkontrolliert zur rechten Seite, wo er wie in Zeitlupe auf den Fußboden segelte. Die Tatsache, dass dieser Brief sie in eine andere, weit entfernte, fast schon totgeglaubte Welt gebracht hatte, schien sie vergessen lassen zu haben, wo sie sich eigentlich befand. Frau Hoffmann riss den Hörer von der Gabel. „Hoffmann...“, schnaubte sie hektisch atmend. Als sie Herrn Hofers Stimme hörte, fiel es ihr plötzlich wieder ein. Sie blickte auf ihre große Wanduhr, es war schon fast halb sieben.
Auch, wenn Herr Hofer sich nicht direkt verärgert anhörte, erfreut schien er auch nicht zu sein. Er schien verwundert über die Tatsache, dass Frau Hoffmann ihn nicht wie vereinbart zurückgerufen hatte. Frau Hoffmanns Hände zitterten noch immer, ihr Herz raste. Herr Hofer fragte angespannt, weswegen Frau Hoffmann es denn versäumt habe, sich bei ihm zu melden, worauf Frau Hoffmann nichts zu antworten vermochte. Als sie nach weiteren Sekunden des Schweigens nicht reagierte, fragte er, ob bei Frau Hoffmann alles in Ordnung wäre, weil es schließlich nicht ihre Art sei, sich nicht an Absprachen zu halten. Und dann passierte es. Es überkam Frau Hoffmann mit einer Wucht, die sie so noch nie erlebt hatte. Im Bruchteil einer Sekunde sah Frau Hoffmann das Gesicht ihrer kranken Schwester vor sich. Völlig übermannt von der Angst, ihre Schwester könne vielleicht inzwischen schon längst gestorben sein, schluchzte Frau Hoffmann unvermittelt los. Unzählige Tränen liefen über ihre Wangen. Es war, als hätte diese Nachricht ein bis dahin luftdicht versiegeltes Tor zu Frau Hoffmanns Vergangenheit durchbrochen.
Noch immer hielt Frau Hoffmann den Hörer in der Hand und schluchzte hemmungslos in den Lautsprecher. Sie hörte Herrn Hofer nicht, als dieser verunsichert fragte, ob er Frau Hoffmann zu nahe getreten sei, weil wenn dem so wäre, es sicherlich nicht seine Absicht gewesen war, sie zu kränken. Frau Hoffmann hörte auch nicht, dass er sie fragte, ob er etwas tun könne, und sie bekam auch nicht mit, dass er sagte, dass er zu ihr hinunter kommen würde und anschließend auflegte.
Als es wenige Augenblicke später an ihrer Tür klopfte, hielt Frau Hoffmann noch immer den grünen Telefonhörer fest in der Hand. Sie starrte in die Leere und fragte sich, wie all das nur hatte geschehen können. Sie fragte sich, warum ihre Familie sie
Weitere Kostenlose Bücher