Rendezvous im Hyde Park
wie sie es sich erträumte, würde sie sie nicht von dem Gentleman neben sich ablenken, dessen pure Anwesenheit ihr einen Schauder nach dem anderen über die Haut jagte.
Dazu brauchte er sie nicht einmal zu berühren. Das war schlecht, sehr schlecht.
„Wissen Sie, worum es in der Oper geht?", ertönte eine warme Stimme an ihrem Ohr.
Annabel nickte, obwohl sie den Inhalt nur kurz überflogen hatte. In ihrem Programm war eine Zusammenfassung der Handlung abgedruckt, die, wie Louisa ihr erklärt hatte, Pflichtlektüre für jeden war, der kein Deutsch verstand, doch Annabel hatte keine Zeit gehabt, es vor Mr Greys Ankunft genauer durchzulesen. „Ein bisschen", flüsterte sie.
„Ein wenig."
„Das ist Tamino", erklärte er und deutete auf den jungen Mann, der soeben die Bühne betreten hatte. „Unser Held."
Annabel wollte nickten, hielt dann jedoch erschrocken die Luft an, als sich eine riesige, laut zischende Schlange auf die Bühne wälzte. „Wie haben die das denn gemacht?", murmelte sie fassungslos.
Bevor Mr Grey sich dazu äußern konnte, war Tamino vor Angst in Ohnmacht gefallen.
„Ich fand ihn nie sonderlich heldenhaft", sagte Mr Grey.
Sie sah ihn an.
Er zuckte nur verhalten mit einer Schulter. „Ein Held sollte wirklich nicht auf der ersten Seite in Ohnmacht fallen."
„Auf der ersten Seite?"
„In der ersten Szene", verbesserte er sich.
Annabel war geneigt, ihm zuzustimmen. Außerdem fand sie den merkwürdigen Mann im Federkostüm viel interessanter, der auf der Bühne erschienen war, zusammen mit drei Damen, die prompt die Schlange töteten. „Keine Hasenherzen", murmelte sie in sich hinein.
Sie konnte Mr Grey neben sich lächeln hören. Sie konnte ihn hören. Wie das möglich war, wusste sie nicht, aber als sie ihm einen verstohlenen Seitenblick zuwarf, sah sie, dass es stimmte. Er sah auf die Bühne und die Sänger hinab, und um seine Lippen spielte ein Lächeln stillen Einvernehmens.
Annabel holte tief Luft. Das halbdunkle Theater erinnerte sie an ihre erste Begegnung auf der dunklen Heide. Lag das erst einen Abend zurück? Es kam ihr seltsam vor, dass seit diesem zufälligen Treffen erst vierundzwanzig Stunden verstrichen waren. Sie fühlte sich innerlich wie verwandelt, hatte sich weitaus mehr verändert, als es nach einem kurzen Tag möglich schien.
Sie blickte auf seine Lippen. Sein Lächeln war erloschen, er sah nun aufmerksam auf die Bühne, konzentrierte sich auf das Drama, das dort unten seinen Lauf nahm. Und dann ...
Drehte er den Kopf.
Beinahe hätte sie den Blick abgewandt. Doch sie tat es nicht. Stattdessen lächelte sie. Nur ein bisschen.
Er erwiderte das Lächeln.
Sie strich sich mit den Händen über den Bauch, in dem alles Mögliche zu flattern begonnen hatte. Sie sollte nicht mit diesem Mann flirten. Es war ein gefährliches Spiel, das zudem zu nichts führen würde, und sie wusste es doch besser, wirklich. Aber irgendwie konnte sie einfach nicht anders.
Er hatte etwas so Bezwingendes, so Ansteckendes an sich.
Er war ihr privater Rattenfänger, wenn sie in seiner Nähe war, fühlte sie sich ...
Sie fühlte sich anders. Besonders. Als könnte sie auch aus einem anderen Grund leben, als einen Ehemann zu finden und ein Kind auf die Welt zu bringen, in dieser Reihenfolge, mit der Person, die ihre Großeltern für sie ausgesucht hatten, und...
Abrupt wandte sie sich wieder zur Bühne. Sie wollte jetzt nicht über all das nachdenken. Sie sollte einen schönen Abend verleben. Einen wunderbaren Abend.
„Jetzt verliebt er sich gleich", flüsterte ihr Mr Grey ins Ohr. Sie drehte sich nicht zu ihm um. Sie wagte es nicht. „Tamino?", murmelte sie.
„Die Damen zeigen ihm gleich ein Bildnis von Pamina, der Tochter der Königin der Nacht. Er wird sich umgehend in sie verlieben."
Annabel beugte sich vor, auch wenn ihr klar war, dass sie das Porträt von ihrer Loge aus nicht erkennen würde.
Es war natürlich nur eine Geschichte - aber wirklich, der Maler musste schon ein beachtlicher Künstler gewesen sein.
„Ich habe immer über den Maler gestaunt", sagte Mr Grey da. „Er muss unglaublich talentiert sein."
Annabel fuhr zu ihm herum und blinzelte.
„Was ist denn?", fragte er.
„Nichts", sagte sie leicht benommen. „Es ist nur... ich habe gerade genau dasselbe gedacht."
Er lächelte wieder, doch dieses Mal war es anders. Beinahe, als ob ... Nein, das konnte nicht sein. Er konnte sie einfach nicht anlächeln, als hätte er eine verwandte Seele gefunden. Denn
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