Rendezvous mit Biss: Roman (German Edition)
leuchten. Plötzlich konnte ich es kaum noch erwarten, sie zu öffnen und zu erfahren, warum ihr Inhalt so verdammt wichtig war. Enthielten sie tatsächlich Informationen über den Tod meines Vaters? Auch wenn ich mir dies sehnlichst wünschte, bezweifelte ich, dass sie überhaupt irgendetwas mit ihm zu tun hatten. Aber vielleicht enthielten sie einen unbezahlbaren Schatz oder Beweise über Jesus, Maria oder die Kirche, die den Lauf der Geschichte verändern würden. Oder Geheimnisse, die seit Jahrzehnten vertuscht wurden und nun vom Vatikan zu Opus Dei übergesiedelt waren. Würde ihr Inhalt Leben zerstören oder retten?
Ich holte ein Messer aus der Küche und hackte mir einen Weg durch das vatikanische Wachssiegel auf der Kiste mit der Nummer Vier. Unter dem weißen Packpapier trat ein Schlitz zutage, der sich öffnen ließ. Im Inneren befanden sich Aktenordner. Ich wiederholte den Vorgang mit den Kisten fünf und sechs, die ebenfalls Akten enthielten. Bis hierher wirkte nichts ungewöhnlich. Ich würde die Akten lesen müssen, um Antworten zu erhalten.
Ich begann mit Kiste Nummer sechs, die mit schlichten hellbraunen Aktenmappen vollgestopft war. Jede Mappe war mit dem Namen eines Landes oder einer Stadt beschriftet. Ich suchte mir eine beliebige heraus. Es war eine mit der Aufschrift Frankreich, und sie enthielt Dossiers über Männer und Frauen aller erdenklicher Abstammung und Lebensumstände. An einigen Dossiers klemmten Fotos. Als mir bewusst wurde, was ich da gerade in den Händen hielt, beschleunigte sich mein Herzschlag wie eine aus dem Bahnhof fahrende Dampflok: Es handelte sich um Akten von als Menschen getarnten Vampiren, die immer noch auf dieser Erde wandelten und ganz offenbar auf der Abschussliste der Kirche standen. Hektisch wühlte ich durch die Unterlagen, bis ich sie entdeckt hatte – die Mappe über New York City. Sie war prall gefüllt. Ich legte sie auf den Tisch und blätterte so schnell wie möglich durch die Dossiers, bis ich fand, was ich suchte: DAPHNE URBAN. Mein Dossier. O Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Gab es etwas Schlimmeres als das hier? Ich wandte mich Kiste Nummer fünf zu. Darin befanden sich weitere Akten mit Länder- und Städtenamen voller Vampir-Dossiers. Doch etwa die Hälfte der Aktenmappen waren schwarz. Ich zog eine solche heraus und blätterte sie durch. Die chronologisch geordneten Unterlagen gingen zurück bis in die 1950er Jahre, und jedes Jahr enthielt schwarz gesäumte Berichte über Vampire, die von den Vampirjägern des Vatikans gepfählt worden waren. Die Berichte dokumentierten sämtliche Einzelheiten – wer gestorben war, wann, wo und wie, zusammen mit den Codenamen für die Jäger. Wer sind diese Jäger? Ich brauche ihre Namen. Ich muss sie identifizieren und sie aufhalten, bevor sie mich und die Meinen aufspüren.
Meine Hände zitterten vor Anspannung, trotzdem wandte ich mich Kiste Nummer vier zu. Darin befanden sich ebenfalls Akten, die jedoch keine Dossiers, sondern historische Aufzeichnungen enthielten. Ich zog die erste Mappe mit der Aufschrift LIBER MAGNUS heraus, der lateinische Name für Das große Buch. Ich setzte mich mit der Mappe in der Hand auf einen Esszimmerstuhl und begriff nach einem flüchtigen Blick auf die ersten Zeilen, dass diese Kiste Aufzeichnungen über die Geschichte meiner Rasse enthielt. Ich öffnete die Mappe mit zitternder Hand und begann zu lesen.
Kapitel 10
Von Müh’n erschöpft such’ ich mein Lager auf,
Die holde Ruhstatt reisemüder Glieder,
Doch dann beginnt in meinem Kopf ein Lauf …
William Shakespeare
O ben auf einem dicken Stapel handgeschriebener Seiten stand der Titel: Liber Magnus 1: Der Dunkelflügel Erzählungen von Baron Wolfgang Ungern Sternberg, übersetzt von Bruder Timothy Finnegan. Offenbar handelte es sich hierbei nicht um das Originaldokument, sondern um die Übersetzung eines Mönches. Die zweite Seite des Stapels war auf den 13. März 1938 datiert und in Wien verfasst worden. Zu dieser Zeit hatte der Anschluss von Hitlers Heimatland an das Dritte Reich bereits stattgefunden.
Ohne zu ahnen, was ich in den Händen hielt, begann ich zu lesen.
Ich, Baron Wolfgang Ungern Sternberg, als einer derjenigen, dem die uralte Weisheit der Dunkelflügel und ihre Geschichte anvertraut wurde, habe es mir und meiner der Verdammnis anheimgefallenen Seele auferlegt, dieses Wissen niederzuschreiben, das ehemals nur durch das gesprochene Wort weitergereicht worden ist. Hitler würgt Österreich in seinem
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