Rendezvous mit Biss: Roman (German Edition)
schließlich doch Js Nummer.
»Hallo, J? Daphne hier«, sagte ich. »Wie geht es Ihnen?«
»Ich laufe auf Krücken, ansonsten geht’s mir gut.« Seine Stimme klang fest und vertraut, und ich stellte erleichtert fest, dass J nach wie vor ein Fels in der Brandung war. Er mochte ein Arschloch sein, aber man konnte sich auf ihn verlassen.
»Arbeiten Sie schon wieder?«, fragte ich.
»Ich arbeite ununterbrochen«, antwortete er genervt. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es mir gut geht.«
Ich seufzte tief auf. »Also schön. Wir müssen uns treffen. Ich habe neue Informationen, außerdem gibt es möglicherweise ein Problem.«
»Warum sagen Sie es mir nicht direkt?«
»Ich würde lieber persönlich mit Ihnen sprechen. Wie wäre es mit Sonntagabend? Morgen muss ich erst noch etwas Dringendes erledigen.«
»Sind Sie sicher, dass es bis Sonntag warten kann, Agentin Urban? Sie klingen ganz verändert. Brauchen Sie Unterstützung?«
»Sonntag reicht vollkommen. Ich hatte eine lange Nacht, das ist alles. Ich bin erschöpft und brauche einfach Schlaf.« Ich achtete darauf, dass man meiner Stimme nichts mehr anmerkte.
»In Ordnung. Also am Sonntag. Ich hatte ohnehin vor, eine Teambesprechung einzuberufen. Wir beide können uns vorher treffen. Halb sieben?«, fragte er.
Ich war mir noch nicht sicher, wie viel ich ihm über Daniel und Benny erzählen wollte – oder über Tallmadge, der möglicherweise mit der Gräfin zusammenarbeitete. Außerdem sah ich in Tallmadge ein persönliches Problem, mit dem ich mich auseinandersetzen musste. Auf jeden Fall vertraute ich ihm nicht. Aber bis Sonntag konnte noch eine Menge geschehen. »Halb sieben klingt gut.«
»Agentin Urban?«
»Ja?«
»Was auch immer Sie vorhaben, rufen Sie an, wenn Sie Hilfe brauchen. Haben Sie mich verstanden? Gehen Sie kein unnötiges Risiko ein.«
»Keine Sorge, mir geht es gut. Wir sehen uns Sonntag«, sagte ich entschlossen.
»Roger«, erwiderte er und brach die Verbindung ab.
In meinem jetzigen Zustand moralischer Instabilität stellte ich erleichtert fest, dass mir die einfachen Aufgaben des täglichen Lebens Halt gaben. Ich ging mit Jade spazieren, fütterte sie und Gunther, schlüpfte bei Tagesanbruch ins Bett, stand gegen fünf Uhr nachmittags wieder auf und machte Kaffee. Währenddessen klammerte ich mich an die Erkenntnis, dass ich mein Leben – und meistens auch mich selbst – mochte. Trotz der Vorfälle mit Ducasse und Tallmadge glaubte ich, dass ich die innere Kraft besaß, mir als Person treu zu bleiben. Ich fand Trost in Hemingways berühmtem Zitat aus In einem andern Land: »Die Welt zerstört jeden, doch aus der Zerstörung heraus werden viele erstarken.« Hoffentlich widerstand ich den Versuchungen, die vor mir lagen.
Und hoffentlich halfen mir die Informationen über die Gräfin dabei, meine Entschlossenheit zu stärken.
Mar-Mar hatte Wort gehalten: In meinem Flur lag eine sandfarbene Aktenmappe, in der sich das Dossier der Gräfin befand. Ich nahm es mit in die Küche und setzte mich mit einer Tasse heißem, starkem Kaffee an die Theke. Dann strich ich meine Haare hinter die Ohren, stützte das Kinn in eine Hand, schlug mit der anderen die Mappe auf und begann zu lesen.
Die Gräfin war in eine noble sizilianische Familie geboren worden, die an der Westküste dieser seltsamen und mysteriösen Insel lebte. Damals regierte Roger II., dessen Gefährtin sie in seinen frühen Regierungsjahren um 1132 wurde. Grob gesehen machte das die Gräfin zu Mar-Mars Zeitgenössin. Und die Geschichte wurde noch viel interessanter.
Die Gräfin war kein braves Mädchen gewesen. Das Dossier ließ einige Jahrhunderte aus, da sie es offenbar geschafft hatte, dem Radar der Kirche zu entwischen, aber sie tauchte im Jahr 1425 in Domrémy in Frankreich wieder auf. Zur selben Zeit und im selben Dorf hatte ein junges Mädchen namens Jeanne d’Arc Visionen und hörte Stimmen, begleitet von hellen Lichtblitzen. Der Klerus vor Ort erstattete nicht nur über Jeanne Bericht, sondern auch über die Gräfin. Die »edle Dame« aus Sizilien hatte es sich in einem großen Schloss bequem gemacht. Sie weigerte sich, zur Messe zu gehen, warf den Priester hinaus, wenn er sie besuchen wollte, und hielt sich ein ganzes Gefolge unheilvoll wirkender Diener und Vertrauensleute. Darüber hinaus verschwanden aus den umliegenden Dörfern plötzlich junge, gutaussehende Männer und Frauen.
Sehr viel interessanter für mich – denn das Verschwinden von Menschen kam mit
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