Rendezvous mit Mr Darcy
am Galgen drehenden Mädchens blieb noch lange, nachdem sie an ihr vorbeigefahren waren, in Chloes Gedanken haften. Auch wenn die Hinrichtung nicht echt gewesen war, so traf sie Chloe dennoch bis ins Mark.
Das Leben des Regency war hart für Frauen, sehr hart, und das war auch eine der Botschaften von Austen gewesen, wenn auch nicht die, die Chloe sich hatte eingestehen wollen.
Die Kutsche blieb quietschend vor einer alten Kirche aus Kalkstein stehen, die aussah, als wäre sie geradewegs einem Märchen entsprungen. Lorbeergirlanden schmückten das steinerne Tor zum Friedhof. Ein Rosettenfenster zierte die Vorderseite der Kirche. Im Eingang stand eine Gestalt, die Chloe nur verschwommen wahrnehmen konnte, und hielt die Tür für die Gäste auf. Hätte sie die Brille getragen, die Henry für sie hatte anfertigen lassen, hätte sie alles deutlich sehen können.
»Wie dem auch sei, es ist ein wundervoller Morgen für eine Hochzeit«, sagte Mrs Crescent für die Videokamera, während sie aus dem Fenster der Kutsche in den blauen Himmel hinaufschaute, an dem weiße Wolken vorbeizogen.
Chloe ließ sich zurück in ihren Sitz fallen. »Ein wundervoller Morgen. Wie kann man nur schon morgens heiraten?«
Mrs Crescent runzelte die Stirn. »Wir hier, meine Liebe, im England des Regency, heiraten morgens. Haben Sie denn gar nichts bei mir gelernt?«
Ein Diener öffnete die Kutschentür, um ihr herauszuhelfen.
»Ich werde ihn nicht heiraten.« Sie wandte sich zu Mrs Crescent, die, kurzatmig, mit Hilfe des Dieners aus der Kutsche stieg. Sie hatte das Baby bei dem Kindermädchen und ihrem Mann und den Kindern auf Bridesbridge gelassen, um Chloes Trauzeugin darstellen zu können. Chloe hatte nur eine, eine einzige Brautjungfer: die stillende Mrs Crescent. Und die Braut selbst? Eine geschiedene alleinerziehende Mutter mit einem Kind, von dessen Existenz niemand etwas wusste, dafür aber alle von ihrem Stelldichein. Welch verkehrte Welt das doch war.
Zusammen schritten Braut und Trauzeugin unter der Lorbeergirlande hindurch auf den Friedhof. Überall befanden sich Grabsteine, alte zerfallende Grabsteine, auf dem Rasen um die kleine Kirche herum. Nein, Chloe konnte hier nicht heiraten, egal wie unecht die Trauung auch war.
»Wer träumt auch schon davon, in einer weißen Haube mit weißer Spitze zu heiraten? Herrgott noch mal, ich möchte eine Tiara, einen Schleier – einen Verlobungsring.« Sie streckte ihre linke Hand aus. Kein Ring. Im Zeitalter des Regency besiegelten Paare ihre Verlobung nur selten mit einem Ring, und dieses Debakel hier ließ gewiss keine Zeit für eine Ringsuche.
Eine Kamera schwenkte zu ihr herüber, als sie mit ihren weißen Schuhen über den mit Kopfstein gepflasterten Weg zum Eingang der Kirche schritt. Die Gestalt eines älteren Mannes in Kniebundhose und einem schwarzen Gehrock mit Rockschößen kam ihr sehr bekannt vor. Er nahm seinen schwarzen Zylinder ab, verbeugte sich vor Chloe und öffnete die Kirchentür.
Chloe stolperte über einen lockeren Kopfstein. Sie hielt ihr Biedermeiersträußchen aus rosa Rosen fest umklammert. Es war ihr Vater!
Sie blieb stehen. »Dad?«
»Ich denke, es heißt hier wohl eher ›Vater‹«, korrigierte er sie lächelnd. »Du siehst wunderschön aus, Prinzessin.« Er streckte die Arme aus und trat vor, während sich die Tür hinter ihm schloss. Sie fiel ihm um den Hals, als wäre sie wieder fünf Jahre alt.
»Oh mein Gott! Wo ist Abigail? Vermisst sie mich? Ist sie hier?«
Chloe ging einen Schritt zurück. Sein Duft nach Rasierwasser von Ralph Lauren traf sie mit voller Wucht.
»Natürlich vermisst sie dich. Aber nein, sie ist nicht hier. Sie ist bei Ned. Sie freut sich, bei ihren Cousinen zu sein. Es geht ihr gut. Wir sind wegen dir gekommen. Wegen unserer kleinen Prinzessin.«
Chloe seufzte. So sehr sie sich auch freute, dass er da war, war Abigail doch diejenige, die sie am liebsten sehen wollte.
Lächelnd hielt er ihre Hände. »Jemand muss dich doch zum Altar führen, oder?«
Ihre Mutter tauchte in einem für eine Brautmutter angemessenen beigefarbenen Seidenkleid auf, einer Farbe, von der Chloe wusste, dass sie sie nie freiwillig tragen würde. Ihre Erscheinung wurde noch durch einen Biedermeierhut abgerundet. Der Friedhof, die Grabsteine, sie hatte plötzlich das Gefühl, als würde sich alles um sie herum drehen. Sie würde heiraten. Noch einmal. Ihre Eltern würden Mutter und Vater der Braut sein. Noch einmal. Eine Puppe, die an einem Strick hing.
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