Rendezvous mit Übermorgen
Scharen arbeitsloser und hungernder Menschen entstanden. Aber als die Wirtschaft sich nicht erholte, verschwanden auch die verwahrlosten Favelas nicht. Sie wuchsen sich vielmehr zu festen Einrichtungen der großstädtischen Wirklichkeit aus, zu wuchernden Krebsgeschwüren, die abgesondert und nach eigenen Regeln existierten, die von Grund auf verschieden waren von denen der Wirtsstädte, die sie ernährten. Je mehr Zeit verging und je unvermeidlicher sich diese Zeltlager zu einem Hexenkessel der Hoffnungslosigkeit und Unruhe entwickelten, desto mehr wuchs die Gefahr, dass diese neuen Enklaven im Einzugsbereich der Großstädte überzukochen begannen und das Sozialgefüge, das ihnen die Weiterexistenz ermöglichte, zu zerstören drohten. Aber trotz des Damoklesschwerts anarchischer Zustände in diesen Siedlungszentren ächzte sich die Welt mühsam durch den Eiswinter 2137/38, und das Grundraster der modernen Zivilisation war noch immer mehr oder weniger intakt.
Anfang 2138 ereignete sich in Italien eine Serie bemerkenswerter Dinge. In ihrem Mittelpunkt stand ein einzelner Mensch namens Michael Balatresi, ein junger Novize des Franziskanerordens, der später allgemein als Sankt Michael von Siena berühmt werden sollte. Dieser Mann zog weltweites Interesse auf sich und vermochte für einige Zeit den Zerfall der Gesellschaft aufzuhalten. Michael war eine brillante Mischung von Genie, Spiritualität und politischer Technik, ein charismatischer, polyglotter Redner mit einem untrüglichen Gespür und Timing und Wirkung. Er tauchte plötzlich - scheinbar von nirgendwo - auf und betrat die Bühne der Welt in der Toskana mit einer leidenschaftlichen religiösen Botschaft, von der Herz und Hirn zahlloser verängstigter und entrechteter Bürger der Erde berührt und ergriffen wurden. Die Schar seiner Anhänger wuchs wie von selbst rasch und ungesteuert an und kümmerte sich nicht um nationale und internationale Grenzen. Michael wurde für nahezu sämtliche fest etablierten Führungsklüngel auf der Erde mit seinem unerschütterlichen Ruf nach einer kollektiven Antwort auf die kollektiven Probleme, unter denen die ganze Menschheit ächzte, zu einer potentiellen Gefahr. Und als er im Juni 2138 unter widerwärtigen Umständen den Märtyrertod erlitt, schien mit ihm der letzte Hoffnungsfunken für die Menschheit erloschen zu sein. Die zivilisierte Welt, die viele Monate lang von eben diesem Funken einer Hoffnung und dem schmalen dünnen Band gemeinsamer Tradition zusammengehalten worden war, zerfiel urplötzlich in Scherben.
Das Leben in den vier Jahren zwischen 2138 und 2142 war schlimm. Die Litanei der menschlichen Leiden war nahezu endlos. Überall herrschten Hunger, Krankheit und Gesetzlosigkeit. Guerillas und Revolutionen waren nicht mehr zu zählen. Die Standardeinrichtungen der modernen Zivilisation brachen fast völlig zusammen, wodurch das Leben auf der Welt zu einem Albtraum wurde für jedermann - außer für die wenigen Privilegierten in ihren Hochsicherheits-Fluchtburgen. Es war eine verkehrte Welt höchster Entropie. Die Versuche gutwilliger Bürger, die Probleme zu lösen, konnten nicht greifen, weil die angestrebten Lösungsversuche lokal begrenzt, die Probleme jedoch global waren.
Das Große Chaos breitete sich auch auf die menschlichen Siedlungskolonien im Weltraum aus und beendete so ein grandioses Kapitel in der Geschichte der Entdeckungen. Während sich die Wirtschaftskatastrophe auf dem Mutterplaneten immer weiter ausbreitete, wurden die über das Sonnensystem verstreuten Kolonien, die ohne regelmäßige Infusionen von Geld, Vorräten und Menschen nicht existieren konnten, zu vernachlässigten Stiefkindern der Erde. Dies hatte dazu geführt, dass bis 2140 fast die Hälfte der Kolonisten wieder zur Erde zurückgekehrt waren, denn die Lebensbedingungen in der neuen Heimat hatten sich bis zu einem Maß verschlechtert, dass diese Menschen lieber die zweifache Last der Wiederanpassung an die Erdschwerkraft und der über die ganze Erde verbreiteten entsetzlichen Armut auf sich nehmen wollten, als in den Kolonien zu bleiben und dort höchstwahrscheinlich zu sterben. Der Remigrationsprozess beschleunigte sich in den Jahren 2141/42, die gekennzeichnet waren von Zusammenbrüchen der künstlichen Ökosysteme in den Kolonien und der katastrophalen Verknappung von Ersatzteilen für die ganze Roboterarmada, durch welche diese neuen Siedlungen in Gang gehalten wurden.
Nur ganz wenige hartgesottene Kolonisten waren 2143
Weitere Kostenlose Bücher