Renegade
ganz ruhig. Und
ich muss zugeben, dass mir diese Ruhe wesentlich lieber ist als die lähmende
Angst, die mich eben noch fest im Griff hatte. Mich auf diese Weise unter
Kontrolle zu haben ist wesentlich besser, als ständig mit dieser schrecklichen
Angst zu leben.
»Evie?« Gavin ist
offenbar nicht entgangen, dass ich mich verändert habe.
»Komm mir einfach
nicht in die Quere«, sage ich knapp.
Der Mann vor mir ist
gröÃer und wahrscheinlich auch stärker als ich. Doch er starrt mich mit
vollkommen leeren Augen an, als wäre dahinter alles tot. Abgesehen von dem
Kinderlied.
Seine
blutverschmierte Kleidung lässt erkennen, dass er schon getötet hat: Warum er
uns dennoch nicht angreift, kann ich mir nicht erklären. Langsam ziehe ich
meine Plasmapistole und richte sie auf seine Brust. Er rührt sich nicht,
blinzelt nicht einmal. Doch Gavin kommt mir zuvor. Er legt eine Hand auf die
Waffe und drückt sie sanft Richtung Boden. Dann flüstert er mir ins Ohr: »Der
Typ ist nicht ganz richtig im Kopf, Evie. Er ist harmlos, lass ihn gehen.«
Ich glaube zwar
nicht, dass er so harmlos ist, aber vielleicht hat Gavin recht. Immerhin hat
der Mann keinen Finger gerührt, um mich davon abzuhalten, ihn zu töten. Also
lasse ich die Waffe mit einem Nicken sinken. Grunzlaute und das nasse Geräusch
von reiÃendem Fleisch verraten mir, dass der Mann hinter uns immer noch damit
beschäftigt ist, sein Opfer zu malträtieren. Obwohl meine Programmierung mich beherrscht,
lässt mich die Geräuschkulisse erschaudern: Gavins keuchender Atem, mein
dröhnender Herzschlag, das schmatzende Fleisch und der raue Gesang des Mannes
vor mir, der alles nur noch schlimmer macht.
Ohne den singenden
Wachmann hinter uns aus den Augen zu lassen, drücken wir uns an die Wand und
machen ein paar behutsame Schritte auf den Leichenfledderer zu. Dann schieben
wir uns seitlich den Korridor hinunter, immer in der Hoffnung, dass er uns
nicht bemerkt. Doch genau in dem Moment, als wir direkt vor ihm stehen, hält er
inne. Sofort erstarren wir. Ganz langsam richtet er sich auf, dann neigt er den
Kopf und mustert uns.
Mir gefriert das
Blut in den Adern, und Gavin stockt der Atem. Ich packe meine Waffe fester und
mache mich schussbereit.
»Es ist mir eine Ehre, Mutters Befehle zu
befolgen. Wir würden niemals an Mutter zweifeln.«
Damit hechtet er auf uns zu, und mir
bleibt keine Zeit zum Nachdenken: Reflexartig hebe ich die Plasmapistole und
drücke ab. Ein blauer Lichtball schieÃt aus dem Lauf, und der Mann geht vor
unseren Augen in Flammen auf. Im nächsten Moment habe ich mich von ihm
abgewendet und zerre Gavin hinter mir her. Wir hetzen geradeaus den Korridor
hinunter, bis wir genug Distanz zwischen uns und die Wachmänner gebracht haben.
Gewisse Anzeichen an den Wänden verraten mir, dass diese beiden nur zwei von
vielen waren.
Abrupt bleibe ich
stehen und wirbele zu Gavin herum. »Tausch deine Waffe gegen die Plasmapistole
aus, die hat weniger Rückstoà und ist leichter zu handhaben. Du wirst sie
brauchen.«
»Du meinst, es gibt
noch mehr von diesen ⦠Dingern?«, erwidert er, und obwohl ich mir sicher bin,
dass er Angst hat â die ich ohne meine Ausbildung bestimmt hätte â, sieht er
mir entschlossen in die Augen.
»Das meine ich nicht nur, ich weià es.«
Ich zeige auf das Blut, das rechts und links an den Wänden klebt.
Mit weit
aufgerissenen Augen blickt er in den Korridor auf der linken Seite. »Was sind
sie?«
»Mutter muss mit den
Wachmännern experimentiert haben«, vermute ich. »Der eine, der die Frau
zerfetzt hat, hat typische Konditionierungsantworten abgespult. Genauso wie
Nick â anscheinend hat sie auch in seinem Kopf herumgepfuscht.« Mir kommt eine
Idee. »Deshalb wollte sie wohl auch unbedingt, dass ich mich mit diesem
Wachmann verpaare. Er ist bestimmt der Einzige von ihren fehlgeschlagenen
Versuchskaninchen, der nicht verrückt geworden ist!«
Als mein Blick
wieder zu Gavin schweift, werde ich von einer plötzlichen Welle tiefschwarzen
Hasses überrollt, sodass ich entsetzt zurückweiche.
Er ist ein manipulativer, gefährlicher
Oberflächenbewohner
, schreit eine Stimme in mir.
Warum versuchst du,
einen Oberflächenbewohner zu retten? Seinesgleichen hat die Oberfläche
zerstört. Er jagt zum SpaÃ. Ein Leben bedeutet ihm nichts.
Dein Leben
bedeutet ihm nichts.
Töte
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