Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
Schweigen, sprach aus, was alle dachten: „Ich verstehe das einfach nicht. Wie kann man nur … wie kann ein Mensch nur fähig sein, einem kleinen Jungen so etwas anzutun?” Wie ein Vorhang bedeckte das lange blonde Haar ihr Gesicht, als sie sich nach vorn beugte und auf die Tischplatte starrte.
„Wer einem Kind das Leben nimmt, hat keinen Anspruch auf die Bezeichnung ›Mensch‹. Solch eine Bestie verdient die Todesstrafe.” Die tiefe Stimme gehörte Frau Schnoor, die wie ein chinesischer Buddha an der Schmalseite des Tisches thronte. Ihre rigorosen Ansichten waren im Kollegium bekannt, doch heute widersprach niemand, zu sehr hatte das brutale Geschehen alle erschüttert.
„Ein Kinderschänder sollte nie wieder frei herumlaufen dürfen. Der gehört für den Rest seines Lebens weggesperrt.”
„Und kastriert!”
Frau Stellmann schüttelte den Kopf: „So wie ich gehört habe, wurde der Junge nicht missbraucht. Deshalb tappt die Polizei auch im Dunkeln.”
„Und das in unserem Schulbezirk. Ich hoffe nur, dass dieses Schwein nicht auch hier wohnt.”
„Welches Schwein? Worum geht es?” Die Lehramtsanwärterin, Claudia Meierfeld, stand in der Tür. „Und wa-rum sitzt ihr im Dunkeln?”
Aufgrund der dichten Bebauung konnte kein Sonnenstrahl direkt in das Fenster fallen, so dass es im Lehrerzimmer zu jeder Jahreszeit kalt und dunkel war. Daran änderten auch die orangefarbenen Stühle nichts, die die Verwaltung am Ende des vorletzten Haushaltsjahres angeschafft hatte, weil kurzfristig noch ein Rest Geld ausgegeben werden musste. Damals reichten die Reaktionen der Lehrer von freudiger Überraschung bis zu beißender Kritik, denn es gab wichtigere Anschaffungen.
Helles Neonlicht flammte auf, als Frau Meierfeld im Vorbeigehen den Schalter drückte. „Was ist denn hier passiert? Alle sehen aus, als wäre der jüngste Tag angebrochen.”
Jede einzelne drehte sich fassungslos zu ihr hin.
„Ja, haben Sie denn keine Zeitung gelesen?”
„Nein, ich musste doch zu dieser Fortbildungsveranstaltung.”
Beate Paukens übernahm es, die Kollegin aufzuklären.
„So ein verdammtes Stück Scheiße! Diesem perversen Affenarsch soll der Schwanz einfrieren!” Die Lehramtsanwärterin fluchte mit großer Erfindungsgabe. Erschrocken starrte Frau Schnoor die junge Frau an. Eine derartige Ausdrucksweise verschlug ihr die Sprache. Die anderen lauschten fasziniert, und Helga wünschte, sich ebenfalls so Erleichterung verschaffen zu können.
„Benjamin Fränzke, ist das der kleine Blonde mit dem Ring im Ohr aus Frau Stellmanns Klasse?” fragte Angela Steinhofer, als der Meierfeld die Worte ausgingen. Sie lehnte sich zurück, so dass die Haare ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen wieder freigaben. Angewidert schob sie die Dose mit dem Pausenbrot beiseite. Heute schmeckte ihr das Frühstück nicht. „Den habe ich mal bei uns im Haus erwischt. Behauptete, seine Oma wohne dort, was aber nicht stimmte. Er schien mir ein neugieriges und vorlautes Kerlchen zu sein.”
Helga horchte auf. „Was suchte er denn dann bei euch?”
„Keine Ahnung. Er trieb sich im Keller herum und schaute hinter jede unverschlossene Tür. Nachdem ich ihm angeboten hatte, ihn zu seiner Oma zu bringen, gestand er, dass er doch niemanden im Haus kannte. Tja, da habe ich ihn ziemlich unsanft hinausbefördert.”
„Seine Mutter schloss nachmittags manchmal die Wohnungstür ab, wenn sie ihre Ruhe haben und nicht gestört werden wollte.” Beate Paukens stieß ein verächtliches Schnauben aus. Sie demonstrierte ihr Mitgefühl mit den Benachteiligten dieser Welt auch äußerlich. Meist trug sie handgewebte Kleidung und Silberschmuck aus Entwicklungsländern, rief ihre Kollegen regelmäßig zu Spendenaktionen für diverse Hilfsprojekte auf, und wenigstens einmal im Jahr berichtete sie ihren Schülern über die Not der Kinder in den ärmeren Ländern. „Benjamin durfte dann erst abends um sechs Uhr wiederkommen. Solange musste er sich bei Freunden oder auf der Straße aufhalten. – Selbst bei Regenwetter und eisiger Kälte.”
„Das haben mir auch verschiedene Schüler erzählt”, bestätigte Linda Kolczewski, die jüngste im Kollegium. „Aber ich habe es nicht geglaubt, ich konnte es mir einfach nicht vorstellen.” Aufgewachsen in einer Kleinstadt, hatte sie ihre Ausbildung an einer Schule abgeschlossen, die in einem der besseren Wohnviertel lag.
„Der arme Junge. Was für ein Leben!”
„Fränzke? Ist das ein Kind von Frau
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