Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
Meierfeld auf ihrer Unterlippe.
„Eines wollen wir nicht vergessen”, Elli Goppel hob ihre Stimme und blickte streng zur Lehramtsanwärterin hinüber. „Es gibt an unserer Schule eine Menge netter Kinder und vernünftiger Eltern. Eltern, die sich um ihre Sprösslinge sorgen und uns Lehrer in jeder Beziehung unterstützen. Wir müssen uns hüten, alle über einen Kamm zu scheren, nur weil einige nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen.”
Mit einem Ruck wurde die Tür aufgestoßen, und ein allen Lehrern bekanntes Pummelchen stürzte herein. „Frau Steinhofer, Sie müssen sofort kommen, der Felix sitzt auf der Bank und weint!” Vanessa Werber aus dem vierten Schuljahr stand mit blitzenden Augen und vor Empörung geballten Fäusten vor ihnen. „Sofort! Der weint!”
Ausgerechnet Vanessa, die mit ihrer frechen Art regelmäßig Mitschüler zum Weinen brachte. Bevor Angela noch eine zustimmende Antwort geben konnte, schickte Elli das Mädchen energisch hinaus. „Auf dem Schulhof sind zwei Lehrerinnen, die Aufsicht führen. Sag denen Bescheid!”
„Ja, aber …”
„Raus!”
Früher einmal hatte Helga geglaubt, hässliche Kinder gebe es nicht. Doch viele Jahre im Beruf hatten sie eines Besseren belehrt. Schlechte Haltung und vorgestreckter Bauch, fettige Haare, die ein rundes Gesicht mit hängenden Wangen und einer breiten ungeputzten Nase umgaben, dazu ein unverschämt freches Mundwerk sowie eine lockere Hand, ergaben ein wenig liebenswertes Kind.
„Sie haben mir überhaupt nichts zu sagen. Frau Steinhofer soll gefälligst kommen.”
„Raus!”
Elli stand auf, schob eine sich sträubende und laut schimpfende Vanessa hinaus und schloss mit unnötiger Vehemenz die Tür. Es herrschte Stille, bis Frau Stellmann zum Thema zurückkam. „Für alles Mögliche braucht man heutzutage eine Genehmigung, bloß Kinder dürfen unkontrolliert in die Welt gesetzt werden. Und dafür gibt es dann sogar noch Geld. Was anschließend aus den Kleinen wird, interessiert keinen. Sie sind Eigentum der Eltern, die mit ihnen machen können, was sie wollen. Nur hinterher, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, dann ist das Geschrei groß. Und schuldig sind immer die anderen, die nichts gemerkt haben, die Nachbarn, die Lehrer, das Jugendamt. Was für ein Irrsinn.”
Frau Schnoor nickte bedeutungsschwer. „Es wird viel zuviel Wert auf die Biologie gelegt. Die Gesetzgeber sollten es lieber mit dem alten Brecht halten: Die Kinder den Mütterlichen …! Das wäre besser für die Kinder, besser für die Eltern, den leiblichen und den anderen, und besser für uns.”
„Das ganze Lamentieren ist doch sinnlos! Wir können die Welt nun mal nicht ändern, nur unser Bestes geben, um den Kindern einen einigermaßen guten Start ins Leben zu ermöglichen.”
„Schön gesagt, aber wir sehen immer wieder, dass unser Bestes nicht ausreicht. Wenn die Mutter sich gekümmert hätte, Benjamin mehr Freunde gehabt hätte, mit denen er hätte spielen können …”
„Was nützen alle ›wenn‹ und ›hätte‹? Sandra war auch ein Opfer, und ihre Mutter hat sich gekümmert.”
„Anscheinend war Benni doch viel allein unterwegs.” Volker Reiser, der einzige männliche Kollege, hatte die Stirn in nachdenkliche Falten gezogen, die so gar nicht zu seinem jungenhaften Gesicht passten. „Im Westpark treibt sich allerlei Gesindel herum. Wenn er etwas aufgeschnappt hat, was nicht für ihn bestimmt war …”
„Ach was, die Obdachlosen, die dort rumsitzen, sind doch harmlos. Die verschönern den Park zwar nicht, aber sie tun auch niemandem etwas, bestimmt keinem Kind.”
„Glaubst du? Du kannst mir nicht erzählen, dass das ausgeglichene, vernünftige Menschen sind, bei dem Leben, das sie führen. Vielleicht ist plötzlich einer durchgedreht?”
Wieder gab es keine Antwort. Die Gewalt hatte alles verändert. Frau Schnoor, sonst immer auf eine korrekte Sprache bedacht, hielt sich stumm an ihrer Kaffeetasse fest. Elli Goppel suchte vergeblich nach einer Möglichkeit, die Stimmung zu heben. In allen wühlte der Zorn, Zorn über verantwortungslose Mütter, Zorn über den brutalen Mörder, dem die Kinder wehrlos ausgeliefert waren.
„Und die Polizei? Die sollte endlich mal den Täter finden. Was tut die bloß die ganze Zeit?”
Rektor Raesfeld war hereingekommen und hatte Frau Meierfelds Frage gehört. „Die suchen nach einem Motiv. Gibt es noch Kaffee? Ich bin kaputt wie ’n Brötchen.” Schwer atmend ließ er sich auf einen Stuhl
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