Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
fallen. Sein Gesicht hatte die Farbe schmutziger Milch angenommen, unter den Augen zeigten sich dunkle Schatten. Frau Paukens stand auf und schenkte ihm wortlos eine Tasse ein. „Das Telefon stand den ganzen Morgen nicht still. Eltern, Schulamt, Verwaltung … als ob ich verantwortlich wäre. Was kann ich dafür, dass hier in der Gegend plötzlich so ein Perverser auftaucht. Und dann die Presse! Diese Reporter wollten doch tatsächlich herkommen, die Lehrer interviewen und die Klassenräume fotografieren. Anstand, Pietät, Taktgefühl sind anscheinend Fremdworte für sie. Es ist schon schlimm genug, dass die Polizei hier ein-und ausgeht.”
Er holte tief Luft und riss sich augenfällig zusammen. Geistesabwesend trank er seinen Kaffee aus. „Wenn Sie also Fremde im Gebäude sehen, stellen Sie bitte sofort fest, wer die sind und was sie wollen. Reporter werfen Sie kommentarlos hinaus.” Verärgert starrte er in seine leere Tasse. „Vielleicht wäre Baldriantee angebrachter?”
„Herr Raesfeld, Telefon!” Die Sekretärin stand in der Tür.
„Auf in den Kampf!” Als er das Lehrerzimmer verließ, sah man ihm jedes einzelne seiner fünfundfünfzig Jahre an.
„Armer Kerl. Er ist völlig überfordert. Wir sollten uns überlegen, was wir den Journalisten sagen.”
Alle starrten Linda Kolczewski an. „Du hast doch gerade gehört, was Raesfeld verlangt hat. Reporter werden umgehend hinausgeworfen.”
Was war denn in Linda gefahren? Sich offen gegen den Rektor zu stellen, entsprach normalerweise nicht ihrem Stil. Helga hatte sie noch nie unbeherrscht erlebt. Die Kollegin wusste immer ganz genau, was sie sagte und tat. Was also erwartete sie von einem Gespräch mit der Presse? Womöglich stimmte Ellis Vermutung, dass die Kollegin die Beförderung anstrebte. Demnächst wurde eine Konrektorenstelle frei. Ob Linda die Situation nutzen wollte, um sich zu profilieren? Früher hätte Helga ihr so viel Egoismus nicht zugetraut, aber jetzt …?
„Na ja, ich finde, die Öffentlichkeit hat ein Recht, alles über uns und die Schule zu erfahren.”
„Quatsch! Wir haben mit der ganzen Geschichte nichts zu tun. Weshalb also sollten wir auch nur ein Wörtchen mit den Leuten reden? Von der Gefahr, falsch zitiert zu werden, mal ganz abgesehen.”
Linda schwieg. Hinter ihrer Stirn arbeitete es.
„Das kann doch nur jemand sein, der im Oberstübchen nicht richtig tickt. Ein normaler Mensch würde so etwas doch nicht tun.” Ein leises fragendes „oder?” klang in Angela Steinhofers Stimme mit.
„Meinst du! Wenn Wahnsinn epidemisch wird, erklärt man ihn zur Normalität. So einfach ist das.” Bittere Erfahrungen hatten Elli Goppel hart und zynisch gemacht. „Für jede Tat gibt es heutzutage Entschuldigungen: die schwierige Kindheit, die schlechte Umgebung, der negative Einfluss der anderen. Ich wette, der Mörder von Sandra und Benjamin hatte auch so eine schwierige Kindheit und wird für seine Taten nicht zur Rechenschaft gezogen werden.”
„Seht euch doch die Familien an, aus denen ein Großteil unserer Kinder stammen: allein erziehende und völlig überforderte Mütter; Frauen, die sich mit trinkenden und prügelnden Vätern herumärgern müssen, kein Geld. Kinder, die unter solchen Umständen irgendwie nebenbei groß werden und später als Erwachsene ausrasten, kann ich sogar verstehen.” Obwohl oder vielleicht gerade weil Volker Reiser sich keinerlei Illusionen hingab über das Zu Hause seiner Schüler, zeigte er stets Mitgefühl.
Elli fuhr hoch: „Behauptest du allen Ernstes, du hättest Verständnis für Kinderschänder und Mörder?”
Bevor Reiser noch eine Antwort geben konnte, mischte Angela Steinhofer sich ein. „Ich weiß von zwei Kindern meiner Klasse, die bereits den dritten oder vierten Papa haben. Jeder versucht, an ihnen herumzuerziehen oder schiebt sie beiseite, wenn er mit der Frau allein sein will. Solch inkonsequentes Verhalten muss die Entwicklung eines Kindes doch negativ beeinflussen. Es wird niemals Vertrauen entwickeln! Und dass es als Erwachsener völlig anders denkt und handelt als die Norm ist logisch, oder?”
Typisch Angela, dachte Helga, sie versucht wieder einmal, jeden zu verstehen und jedem gerecht zu werden.
„Ich habe eben schon zugegeben, dass viele Kinder eine schwere Kindheit haben, aber das ist keine Entschuldigung für eine spätere Laufbahn als Verbrecher.” Elli Goppel war nicht zu überzeugen. „Jeder muss die Verantwortung für seine Taten übernehmen.”
„Und
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