Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
jedoch auf die Arbeit konzentrieren zu können. Masowskis Bericht über ihre Besuche beim alten Fränzke und seinen Kumpanen lag fix und fertig auf seinem Schreibtisch, und da es im Moment nichts zu tun gab, das nicht bis morgen früh warten konnte, war ihm ein ruhiger Abend in weiblicher Begleitung als gute Möglichkeit erschienen, Abstand zu gewinnen, die galoppierenden Gedanken einzufangen und sie im Zaum zu halten. Wie aber sollte er das, was er selbst nicht richtig verstand, Helga Renner erklären?
Diese hatte sich nicht gerührt. „Möchten Sie sich lieber über das Wetter unterhalten? Der April bietet in diesem Jahr ein breit gefächertes Gesprächsthema.”
Kersting schüttelte den Kopf. „Ich war bei meinem Vater. Wir verstehen uns nicht sonderlich gut.”
Da Helga keine Antwort wusste, beschränkte sie sich auf einen auffordernden Blick.
„Meine Mutter wurde bei einem Banküberfall getötet. Zufällig. Weil der Angestellte das Geld nicht schnell genug herüberreichte und sie gerade in der Nähe stand.”
„Das – das tut mir Leid. Wurde der Täter gefasst?”
„Es waren zwei. Nein, sie kamen davon. Das ist lange her.” Er kippte den Ouzo, den der Kellner gebracht hatte, kaum, dass sie saßen. „Jedenfalls haben wir uns seitdem mehr und mehr voneinander entfernt.” Von der Leere und Kälte, die in dem großen Haus herrschten, wollte er nichts sagen, auch nicht von den vielen gestörten Kindern sprechen, denen sein Vater anscheinend helfen konnte. Als Leiter eines schulpsychologischen Dienstes beriet er Lehrer und Eltern, doch dass er und sein Sohn ebenfalls der Hilfe bedurften, hatte er nie begriffen.
Helga wollte etwas sagen, überlegte es sich aber anders und schwieg.
„Als ich zur Polizei ging, warf mein Vater mir vor, es aus den falschen Gründen zu tun. Er glaubt, ich will Mutter rächen. Wenn vielleicht auch nur unbewusst. Damit unterstellt er mir etwas, was … was einfach nicht stimmt.”
„Hm!”
Er spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Das war sie, die Reaktion, die er befürchtet hatte. Ungläubiges Räuspern. Warum erzählte er die alte Geschichte überhaupt?
„Reden wir von etwas anderem.”
„Bitte, ich wollte Sie nicht verärgern. Ich habe nur nachgedacht, es bedeutete keine Ablehnung. Entschuldigung, das war kein gelungenes Sprachgebilde. Aber ich wollte Sie wirklich nicht beleidigen. Schon wieder der falsche Ausdruck. Ich geb’s auf.” Mit einem halb entschuldigenden, halb spitzbübischen Lächeln blickte sie ihn an. Wenn er jetzt auf einem Themenwechsel bestand, würde er kleinlich wirken, fürchtete er und fuhr langsam fort.
„Na ja, es ist so, mein Vater ist Psychologe, und … natürlich glaubt jeder, dass das, was er sagt, richtig ist.”
„Halt, warten Sie”, unterbrach Helga. „Sie meinen doch nicht etwa den Schulpsychologen, der manchmal auch Seminare für Lehrer hält?” Sie hatte ihn noch nicht persönlich kennen gelernt, aber schon einiges über ihn gehört. Bei der Behandlung verhaltensauffälliger Kinder verzeichnete er angeblich große Erfolge, von seinen Seminaren waren die meisten Lehrer jedoch enttäuscht.
„Sie kennen ihn?”
Helga hob die Schultern. „Ich habe von ihm gehört. Er soll einige, na ja, exzentrische Ansichten haben.” So positiv hatte sich nur Angela Steinhofer geäußert, während Elli Goppel ihn unverblümt einen Schaumschläger genannt hatte.
Bei ihren Worten wich seine Spannung, zum ersten Mal an diesem Abend wirkte Kersting gelöst. Er verstand, was sie unausgesprochen gelassen hatte. Und nur deshalb vermochte er, das Gespräch ruhig fortzusetzen.
„Auch ein Psychologe kann sich irren, und was seine Ansichten über meine Beweggründe angeht, so basieren sie auf rein subjektiver Interpretation.”
„Es macht Ihnen etwas aus, dass Ihr Vater ein falsches Bild von Ihnen hat?”
„Sicher, ich kann seine Meinung nicht berichtigen und …”
Er stockte.
„Und Sie fühlen sich ausgeliefert?”
Ein stummes Nicken. Der Kellner kam und servierte die Getränke. Kersting empfand Erleichterung, jetzt konnte er das Thema wechseln, ohne dass es allzu sehr auffiel.
„Haben Sie schon gewählt?”
„Ja.” Ein Blick in die Speisekarte hatte beiden genügt.
„Dann lassen Sie uns bestellen.”
Helga folgte seiner Empfehlung und nahm das Gyros mit Metaxasauce, er wählte Lammkeule. Sobald die Bedienung den Tisch verlassen hatte, fuhr er fort: „Ich möchte den Abend mit Ihnen genießen und über nichts Unangenehmes
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