Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
ganzen Körper durchdrang.
„Jeder verspürt mal das Bedürfnis, sich auszusprechen, und ich fand es immer schade, dass das in unserem Kollegium kaum möglich ist. In den Pausen gibt es so viel anderes zu tun, und nach Schulschluss verschwindet jeder so schnell wie möglich. Dabei fände ich es viel besser, den ganzen Ärger in der Schule abzuladen anstatt beim Ehepartner, der das gar nicht so verstehen kann wie eine Kollegin – abgesehen davon, dass einige gar keinen Partner haben.”
„Tja, das ist wohl so. Bisher ist mir das nie aufgefallen, weil auch ich möglichst schnell nach Hause wollte, aber da saß ich dann allein mit meinem Frust. Vielleicht habe ich deshalb eben so viel geredet. Du nimmst mir das doch nicht übel?”
„Natürlich nicht, ganz im Gegenteil, ich bin froh, dass wir uns etwas besser kennen gelernt haben.”
Das stimmte wirklich. Dass diese stämmige Frau, die den Eindruck vermittelte, mit beiden Beinen im Leben zu stehen und sich mit den Realitäten abzufinden, so heftig auf die Probleme vieler Kinder reagierte, hätte Helga nie vermutet. Beate schien immer die Ruhe selbst zu sein, die Tatsachen zu akzeptieren und zu helfen, wo sie helfen konnte.
Auch heute fuhr Helga nicht sofort heim, sondern spazierte erst zum Westpark und von dort Richtung Johannisstraße, wobei sie aufmerksam die Passanten musterte. Unterwegs traf sie einige Kinder, manche spielten, andere holten das Mittagessen von der Imbissbude. In den letzten Tagen war sie ziemlich aktiv gewesen und hatte einiges erfahren. Anscheinend hatte die Wohman ihren Mann verlassen und lebte jetzt mit einem anderen zusammen. Namensschilder an Briefkästen sagten doch eine Menge aus, fand Helga. In der nächstgelegenen Bäckerei hatte sie sich, entgegen aller Gewohnheiten, als Lehrerin vorgestellt und das Gespräch auf Marcel gebracht. Da sich außer ihr keine Kunden im Laden aufhielten, berichtete die schon etwas ältere Verkäuferin ausführlich von dem großen Krach, der vor zwei Monaten Tagesgespräch gewesen war. „Stellen Sie sich vor, es war so schlimm, dass die Nachbarn die Polizei gerufen haben, und die kam mit Blaulicht und hat die Frau und den Jungen mitgenommen. Ja, und dann, also ein paar Tage später, hat der Mann auch noch seinen Arbeitsplatz verloren”, erzählte sie und fuhr mitleidig fort: „Jetzt sitzt der arme Kerl ganz allein in der Wohnung. Das ist nicht gut. Ein Mann braucht eine Frau, die zu ihm hält und ihn unterstützt, ganz besonders in der heutigen Zeit, wo es schwer ist, neue Arbeit zu finden.”
Mit großer Überwindung und zusammengebissenen Zähnen hatte Helga ein zustimmendes Nicken zustande gebracht, um die Frau, die ihr doch sehr naiv erschien, am Reden zu halten. Daraufhin erfuhr sie noch, dass Herr Wohman bisher keine neue Stelle gefunden hatte und viel spazieren ging.
In der Johannisstraße angekommen, überlegte Helga, ob sie bei Wohman klingeln sollte. Sie könnte sich scheinbar ahnungslos nach Marcel erkundigen. Warum eigentlich nicht? Dann wüsste sie wenigstens, ob es sinnvoll war, noch länger zwischen Johannisstraße und Park zu patrouillieren. Gedacht, getan. Ein sauber gekleideter, stark nach Rasierwasser duftender Wohman öffnete ihr.
„Guten Tag. Ich war … äh … ich bin die Lehrerin von Marcel.”
„Marcel wohnt nicht mehr hier. Ist mit seiner Mutter in den Primelweg gezogen.” Die Tür knallte zu. Nun gut, jetzt wusste sie wenigstens, dass sie beruhigt heimfahren konnte. Was sie auch umgehend tat.
Während Vivaldis ›Frühling‹ ertönte und der Tee auf dem Stövchen leise köchelte, versuchte Helga die Fakten zu sortieren. Sie lag ausgestreckt auf dem Sofa und balancierte die Teetasse auf einem Knie. Doch immer wieder schob sich Klaus Kerstings Gesicht störend in ihre Gedanken. Sie mochte ihn sehr, und das war etwas, das sie vor kurzer Zeit noch für unmöglich gehalten hätte. Bei dem Gedanken an ihre Auseinandersetzungen musste sie schmunzeln. Das war vor acht Wochen gewesen, als er so häufig in der Schule auftauchte und immer noch etwas mehr wissen wollte.
Und jetzt stellte sie fest, dass er sie faszinierte, so sehr, dass sie bereits mehrfach den Telefonhörer in der Hand gehalten hatte. Doch Stolz einerseits und Unsicherheit andererseits hielten sie von einem Anruf ab.
Als er sich dann am frühen Abend vom Büro aus meldete und fragte, ob er später noch kurz vorbeikommen dürfe, begann ihr Herz schneller zu schlagen, und sie stimmte trotz Müdigkeit
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