Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
möchtest, werde ich mich trotzdem einmal umhören”, bot die Kollegin prompt an. „Vielleicht finde ich ja etwas.”
„Prima. Der arme Kerl kann einem schon Leid tun. Eltern und Großeltern sind vor einem Jahr hierher gezogen, und von einer Oma abgesehen, spricht niemand genügend Deutsch.”
„Schrecklich, was diesen Kindern angetan wird. Dabei haben die doch auch ihre Rechte. Niemand denkt an sie, niemand fragt, was sie sich wünschen. Ganz plötzlich in ein fremdes Land versetzt zu werden, dessen Sprache sie nicht können, dessen Gewohnheiten sie nicht verstehen, das ist doch furchtbar. Und die Eltern denken nur ans Geld!”
Helga zuckte die Schultern. Sie war es leid , immer und immer wieder die gleichen Argumente zu hören. Natürlich litten die Kinder unter den Umständen, aber sie konnte auch die Eltern verstehen, die sich hier ein besseres Leben erhofften – nicht nur für sich, sondern auch und vor allem für ihre Kinder. Niemand durfte es ihnen verübeln, wenn sie alle Chancen nutzten. Sie als Lehrer konnten nur versuchen, den Kleinen die Eingewöhnung zu erleichtern soweit das überhaupt möglich war.
„Was Eltern heutzutage mit ihren Kindern anstellen, ist unglaublich. Kinder in die Welt zu setzen, bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, für viele Jahre gebunden zu sein. Mir scheint, immer weniger Frauen machen sich das klar.”
Beates Gesicht zeigte hektische rote Flecken, und flackernde Augen suchten vergeblich einen Fixpunkt, als sie über die jungen Frauen sprach. Dabei gehörte auch sie in diese Kategorie. Als Helga vor einiger Zeit rein zufällig Beates Alter erfahren hatte, hatte sie fast der Schlag getroffen. Bis dato hatte sie Beate nur wenig älter als sich selbst geschätzt, doch tatsächlich war sie zehn Jahre jünger. Dass sie auf andere so alt wirkte, lag nicht nur an ihrer Kleidung. Auch heute trug sie wieder eine ihrer grobgewebten langen Jacken über einer bestickten Bluse, beides Produkte aus Indien, den Mustern und Farben nach zu urteilen. Wie konnte eine Frau so hilfsbereit und gleichzeitig so intolerant sein, fragte sich Helga nicht zum ersten Mal.
„So ist es doch, oder etwa nicht?” Beate trat einen Schritt zurück, um Helga von oben bis unten zu mustern.
Die zögerte keine Sekunde. Wenn sie mehr über die Kollegin erfahren wollte, musste sie ihr zustimmen. Also nickte sie bloß und versuchte, möglichst auffordernd zu schauen.
„Ja, genauso ist es!” wiederholte Beate dann und seufzte tief auf. Von einer Minute zur anderen hatte sie sich wieder gefangen. Nur die Bitterkeit umgab sie noch immer. „Und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer! All die armen Würmer, die sich nach Liebe sehnen, nur ein wenig Liebe und Verständnis, mehr brauchen Kinder gar nicht. Wozu hat der liebe Gott Eltern erschaffen? Kämen die Kinder allein zurecht, würden sie aus dem Nest flüchten wie die Küken, aber das tun sie nicht. Sie brauchen ihre Eltern, und sie brauchen Erziehung!”
Ach du liebe Zeit! Sie würde doch nun nicht wieder mit dem altbekannten Thema anfangen. Wie oft hatten die Kollegen in den Pausen darüber schon diskutiert. Und richtig. Nervös gestikulierend wiederholte sie die alten bekannten Argumente, schimpfte über faule Mütter und mangelnde Erziehung, die Verächtlichmachung der Lehrer in der Öffentlichkeit, über inkompetente Vorgesetzte und hilflose Kollegen.
„Kinder wollen, dass man ihnen ihre Grenzen zeigt, sie sind todunglücklich, wenn sie alles dürfen. Diese dummen Hühner, die glauben, sie täten ihren Kindern etwas Gutes, wenn sie ihnen alles erlauben. Freie Erziehung! Wenn ich so einen Quatsch schon höre.”
So aufgewühlt kannte Helga die Kollegin gar nicht. Als Beate einmal Luft holen musste, forderte Helga sie deshalb auf: „Komm mit, ich glaube, im Lehrerzimmer steht noch heißer Kaffee und im Kühlschrank findet sich bestimmt ein Schnaps. Ehrlich gesagt, nach diesem Vormittag könnte ich beides gebrauchen – zum Abreagieren, bevor ich mich auf den Heimweg mache.”
Widerstandslos ließ Beate sich ins Lehrerzimmer führen. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage offerierte Helga Klaren und Kaffee.
„Entschuldige bitte, ich fürchte, ich habe mehr gesagt, als ich eigentlich wollte.”
Außer ihnen befand sich niemand mehr hier. Beate hatte sich auf den nächsten Stuhl fallen lassen, Helga lehnte am Kühlschrank, eine Tasse in der Hand. Den Kümmel hatten beide mit einem Ruck hinuntergespült und genossen jetzt die wohlige Wärme, die den
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