Renner & Kersting 02 - Mordswut
abzunehmen, aber damit konnte sie auch später beginnen. Jetzt musste sie versuchen, Ali wieder aufzubauen, denn sie brauchte deren Hilfe, unbedingt. Allein würde sie Raesfelds Auftrag nicht erledigen können. Ali kannte Gott und die Welt. Vielleicht half ihr die Herausforderung auch, auf andere Gedanken zu kommen, und vielleicht sah die ganze Sache morgen schon wieder anders aus. Helga konnte sich nicht vorstellen, dass eine jahrelange Liebe von einer Sekunde zur anderen verschwand. Es musste doch noch etwas da sein. Und darauf würde man aufbauen können. Dass die Zeit der himmelhoch jauchzenden Verliebtheit eines Tages vorbei sein und eine tiefe Zuneigung deren Platz einnehmen würde, war klar. Ob Ali mal darüber nachgedacht hatte? Oder gab es etwa einen anderen? Das könnte Helga verstehen, schließlich passierte so etwas alle Tage. Doch verliebt wirkte Ali nicht. Sie entschied sich für eine süß aussehende Schokoladentorte, Helga begnügte sich mit einer Obstschnitte.
„Dass eine Liebe sich im Laufe der Jahre verändert, sich verwandelt in Kameradschaft, gemeinsame Sorge um die Kinder, das ist normal«, sagte sie deshalb zu Ali, sobald sie wieder am Tisch saßen. „Ihr habt so vieles gemeinsam durchgestanden, den Hausbau, die Kinderkrankheiten, du weißt das besser als ich. Denk doch mal an die gemeinsamen Jahre.«
„Was glaubst du, was ich die ganze Zeit tu? Ich versuche, Gefühle wieder zu beleben, die mal da gewesen sind. Ich denke immer, sie müssen doch Spuren hinterlassen haben. Aber da ist nichts, außer einer großen Gleichgültigkeit.«
„Hast du mal mit Herbert darüber gesprochen?«
„Wann denn? Ich weiß es doch erst seit einer Woche. Außerdem muss ich zunächst mit mir selbst klar kommen.«
Beinahe hätte Helga gelacht. „Nun warte doch erst mal ab, vielleicht ist das nur so eine kurze Zwischenphase. Morgen sieht alles ganz anders aus.«
„Glaubst du das? Glaubst du das wirklich?«
Helga wandte den Blick ab. Sie wusste, dass man ihr ihre Gedanken vom Gesicht ablesen konnte, und eine Lüge, selbst wenn sie noch so gut gemeint war, hatte Ali nicht verdient.
„Ich hoffe es«, gab sie deshalb zurück. „Sehr sogar. Für euch beide.« Lange Zeit blieb es still. Helga schaute aus dem Fenster. Welke Blätter wirbelten über den Platz und verkündeten den Herbst. Ein paar Fußgänger eilten vorüber, eine Frau noch mit Strickjacke, eine andere schon im Wintermantel. Ohne die bunten Marktstände wirkte der Platz trostlos. Vielleicht lag es auch an dem grauen, wolkenverhangenen Himmel, dachte Helga, die nach einer Erklärung für ihre eigene trübsinnige Stimmung suchte. Ali beschäftigte sich mit ihrer Torte und bestellte noch Kaffee nach. Als sie den letzten Krümel vom Teller gefischt hatte, schob sie die unvermeidliche Zigarette in den Mund, zündete sie an und wedelte den Rauch mit einer Hand beiseite, bemüht Burschikosität zu demonstrieren.
„Nun also«, sie lehnte sich zurück. „Was genau stellst du dir vor, was sollen wir tun?«
„Wir müssen uns umhören, herausfinden, wer ein Motiv und wer Gelegenheit hatte. Kanntest du Kowenius?«
„Na klar, die meisten meiner Nachbarn gehen zu ihm, äh, gingen muss ich jetzt wohl sagen. Er war bekannt und sehr beliebt. Wie hat deine Kollegin es aufgenommen?«
„Sie liegt im Krankenhaus. Mehr weiß ich nicht.«
Ali hob ruckartig den Kopf. „Zwischen dir und Klaus stimmt es anscheinend auch nicht mehr so hundertprozentig, oder sehe ich das falsch?«
Helga zog eine Grimasse. „Es ist das alte Problem. Er möchte Kinder, ich nicht. Die Entscheidung liegt bei ihm.«
„Du willst also nicht nachgeben?!« Das war Frage und Feststellung zugleich.
„In meinem Alter? Ich kann nicht.«
„Hm, kann ich verstehen.« Ali beugte sich vor. Ihre Stimme wurde leise, als verrate sie ein Geheimnis. „Ich nähere mich rapide den vierzig und spüre die Last meiner Töchter jeden Tag aufs Neue. Franziska ist verflixt frühreif. Mit zwölf will sie in die Disco. Und es gibt nichts Wichtigeres als Jungen, Aussehen und Outfit. Sie verbringt Stunden vor dem Spiegel, das Badezimmer stinkt hinterher wie Frisör, Parfümerie und Bordell in einem. Furchtbar! Ich hoffe, dass Veronikas Entwicklung ruhiger verläuft. Wenn ich mir vorstelle, jetzt noch einen Säugling versorgen zu müssen ... nein danke, kann ich da nur sagen.«
„Zurück zum Thema«, befahl Helga mit strenger Stimme. Sie mochte nicht über ihre privaten Sorgen reden. Selbst wenn Ali
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