Renner & Kersting 02 - Mordswut
mangelndes Selbstwertgefühl, ihre Zukunftsängste. Tränen stiegen in ihr hoch und liefen die Wangen hinunter. Sie konnte und wollte sie nicht zurückhalten. Warum musste sie es auf diese Weise erfahren? Abrupt startete sie den Motor und raste heim.
Ihr Telefon stand auf dem Schreibtisch. Sollte sie ihn anrufen? Das Display zeigte ihm ihre Nummer. Würde er sie wegdrücken, war alles klar, und sie würde ihn nie wieder sehen. Doch sie hatte Angst – Angst vor dieser schrecklichen Endgültigkeit. Solange er es ihr nicht selbst unmissverständlich sagte, hegte sie Hoffnung, wenn auch wider alle Vernunft. Vielleicht kam er zu ihr zurück. Vielleicht hatte er sie nie verlassen. Stöhnend legte sie den Hörer wieder auf die Gabel. Sie lief durch alle Räume, blätterte in verschiedenen Büchern und wusste doch, dass es keine Hilfe gab. Warum musste Liebe so wehtun?
Eingesponnen in ihren Kummer hockte sie auf dem Sofa, den Fernseher eingeschaltet. Sie hörte nichts, sie sah nichts. Sie spürte nicht, wie die Zeit verging. Irgendwann schlug die Uhr in der Nachbarwohnung zwölf, und sie schrak auf. Wochenende, dachte sie, Zeit der Ruhe und Erholung. Welch ein Hohn!
19
Mit klopfendem Herzen betrat Anja am Samstagmorgen das Wohnzimmer, in dem Kersting die Nacht auf dem Sofa verbracht hatte. Nachdem sie gestern Abend noch lange gesessen, Wein getrunken und geredet hatten, wollte sie ihn nicht einfach so gehen lassen. Der Mann faszinierte sie. Er strahlte so viel Verlässlichkeit aus, so viel Ruhe und Stärke. Am liebsten hätte sie ihn mit in ihr Bett genommen, aber instinktiv spürte sie, dass er dazu noch nicht bereit war. So hatte sie ihn gebeten, auf dem Sofa zu campieren. Die Angst vor einem Einbrecher brauchte sie nicht einmal zu spielen, die war noch immer da. Sie hatten lange über Josef und Andrea gesprochen, die Anja um ihre innige Zuneigung beneidet hatte. Beinahe hätten sie gestritten. Kersting beharrte darauf, dass Andrea die Täterin sein müsse, da alle Indizien auf sie wiesen; sie, Anja, dagegen glaubte fest an Andreas Unschuld. Keiner vermochte den anderen zu überzeugen, etwas, das weder sie noch er übel nahmen. Sie wunderte sich über seine Toleranz. Andere Männer, die sie kannte, hätten die Diskussion nicht beendet, bevor sie nicht klein beigegeben hätte, wenn auch nur um des lieben Friedens willen und nicht aus innerer Überzeugung. Er brauchte diese Bestätigung seiner männlichen Überlegenheit nicht. Dann hatte sie von Maylinn erzählt und zu ihrer Überraschung festgestellt, wie sehr Kinder ihn interessierten. Alles Mögliche wollte er wissen, über Kindergarten und Schule und wie sie Arbeit und Erziehung unter einen Hut brachte. Soviel Interesse bekundete nicht einmal Heinzchen, ihr derzeitiger Lover. Die Kleine hatte sich aber auch von ihrer besten Seite präsentiert. Ohne Widerworte war sie ins Bad gegangen, hatte sich allein ihr Nachthemd angezogen, und als sie kam, um „Gute Nacht« zu sagen, fragte sie ihn tatsächlich, ob er genau so ein Polizist wäre wie der, der den Hotzenplotz fängt. Völlig hingerissen von ihrer Tochter hatte er sie auf den Arm genommen, und gemeinsam brachten sie die Kleine dann ins Bett.
Danach wurde es spät. Draußen peitschte ein Herbststurm die Regenmassen an die Fenster, ein Gewitter entlud sich donnernd. „Bei dem Unwetter sollten Sie nicht mehr fahren. Ich habe noch einen alten Rotwein, den mir Josef mal geschenkt hat, für besondere Gelegenheiten. Wenn Sie möchten, richte ich Ihnen nachher ein Bett hier im Wohnzimmer.«
Einen bangen Moment fürchtete sie, er würde ablehnen, doch dann hatte er genickt, was sie als Zeichen nahm, dass daheim niemand auf ihn wartete. Ein Anfang, dachte sie. Alles Weitere würde sich finden. Sie brauchte einen Vater für ihre Tochter, und die Sympathie zwischen Kind und Polizist schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Das genügte ihr zunächst.
„Gut geschlafen?«, fragte sie fröhlich, als sein zerstrubbelter Kopf unter den Decken auftauchte. „Ich habe Maylinn Brötchen holen geschickt. Ich hoffe, Sie frühstücken noch mit uns, bevor Sie fahren?«
Ein wenig verlegen stimmte er zu. Anja bemerkte es und bedankte sich noch einmal ausgiebig für seine Anwesenheit, die anscheinend die Einbrecher vertrieben hatte. Außer dem Sturm waren keine Geräusche zu hören gewesen.
Auf der Heimfahrt litt er unter seinem schlechten Gewissen. Es ging um Helga. Seit Mittwoch hatte er nichts mehr von sich hören lassen. Eine
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