Renner & Kersting 02 - Mordswut
die redefreudigen Frauen doch immer wieder unbemerkt zum einzigen, sie derzeit interessierenden Thema zurückbringen müssen. Völlig erschöpft ließ sie sich in einen Sessel fallen. So viel Gutes wie sie an diesem Morgen über Kowenius gehört hatte, das war nicht normal. So gut konnte kein Mensch sein. Selbst der gesunde, allgemein übliche Egoismus schien ihm zu fehlen. Seinen Patienten stand er selbstverständlich und zu jeder Zeit zur Verfügung, gleichgültig worum es sich handelte. Da Ali noch nie des Nachts einen Arzt gebraucht hatte, und im Fall des Falles selbstverständlich nicht den Hausarzt sondern den Dienst habenden Notarzt angerufen hätte, erschien es ihr etwas unheimlich, wie viele Menschen ihren Doktor Kowenius aus dem Bett geklingelt hatten. Wenn das alles so stimmte, wie es ihr erzählt worden war, konnte sie gut verstehen, dass seine erste Frau das Weite gesucht hatte.
Obwohl Ali selbst half wo sie konnte und der Ansicht war, dass, wenn jeder sich ein wenig mehr um seine Mitmenschen kümmern würde, die Welt besser wäre, erschienen ihr die sogenannten Gutmenschen doch suspekt. Niemand konnte nur gut sein. Das widersprach allen Erfahrungen. Jeder besaß schwache Stellen. Jeder musste sich mal abreagieren. Auch das gehörte zum Menschsein dazu. Wie reagierte Kowenius sich ab? Muckibude? Jogging? Sauna? Das wusste niemand. Keine ihrer vielen Gesprächspartnerinnen hatte ihn mal im Theater oder im Konzert gesehen, weder in Restaurants noch bei Spaziergängen oder im Schwimmbad. Was tat er in seiner Freizeit? Sie musste unbedingt mit Helga reden. Womöglich hatte die Michalsen die eine oder andere Andeutung fallen gelassen. Doch jetzt brauchte sie zur Aufmunterung erst einmal einen Klaren. Sie goss sich ein großes Glas Aquavit ein und genoss die Wärme, die der Schnaps in ihrem Körper verbreitete. Dann wurde es Zeit, das Essen für sich und die Kinder vorzubereiten.
18
Helga hatte die Auberginen gebraten und legte sie auf Küchenkrepp, um sie abtropfen zu lassen. In einem Topf schmorte Hackfleisch mit Zwiebeln, Tomaten, Petersilie, Oregano und Zimt in einem Sud aus Wein und Fleischbrühe. Sie trank einen Schluck von dem Weißwein, den sie auch zum Kochen verwendete und sog genießerisch den aufsteigenden Duft ein, der sie an Sonne und Meer, Bozouki und Syrtaki erinnerte. Nach einem weiteren Schluck holte sie Milch, Eier und Butter aus dem Kühlschrank, um die Bechamelsoße zuzubereiten. Die Klingel nahm sie nur unwillig zur Kenntnis. Erst nach dem zweiten, weitaus stürmischeren Gebimmel entschloss sie sich zum Öffnen. Ali. Wer sonst? „Hm, das duftet aber gut! Wieso kochst du um diese Zeit?«
„Da ich keine Familie zu versorgen habe, kann ich auch um halb vier zu Mittag essen. Ich brauchte Abwechslung. In der Schule war mal wieder der Bär los. Ich erzähl es dir nachher. Jetzt muss ich mich erst um die Soße kümmern. Du kannst zuschauen, dir ein Glas holen und dich mit Wein bedienen oder die Kaffeemaschine betätigen – oder alles zusammen.«
Kommentarlos öffnete Ali die Schranktür, hinter der der Kaffee verborgen war und bediente die Kaffeemaschine. Inzwischen widmete sich Helga der Bechamelsoße. Anschließend schenkte Ali sich ein Glas Wein ein, setzte sich an den Küchentisch, über dem ein roter chinesischer Lampion hing, und sah Helga bei der Arbeit zu. Zweifellos besaß Ali die größere Erfahrung beim Kochen, doch das Ausprobieren neuer Rezepte schob sie meist so lange vor sich her, bis sie dieses Vorhaben wieder vergaß. Da sie Verantwortung für eine Familie trug, konnte sie es sich nicht leisten, nur ab und zu aus Vergnügen eine Mahlzeit zu kreieren. Manchmal beneidete sie Helga um ihre Freiheit, dann wieder bedauerte sie die Freundin. Als Lehrerin bekam sie oft nur die negativen Seiten der Kindererziehung zu sehen. Wie schön es war, wenn sich Kinderarme vertrauensvoll um den Hals legten, hatte sie nie erfahren.
„Kannst du mir mal die Auflaufschüssel aus dem Schrank holen!«, bat Helga und riss sie damit brutal aus ihren Meditationen. Zuerst bestrich Helga die Schale mit Butter, dann füllte sie abwechselnd Auberginen und Fleischmasse hinein, bedeckte das Ganze mit Soße und Käse und schob den Auflauf in den Ofen. Das benutzte Geschirr wurde noch schnell in die Spüle gestellt, dann streckte sie die Arme aus und meinte: „Den Rest räume ich heute Abend auf. Lass uns ins Wohnzimmer gehen und Kaffee trinken.«
Dieser Aufforderung kam Ali nur zu gern nach.
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