Renner & Kersting 02 - Mordswut
Tassen und Milch standen schon auf einem Tablett bereit. Der niedrige Tisch musste allerdings erst frei geräumt werden. Fernsehzeitung und Rundschau, Teetasse, Stövchen, Kerze und Blumenvase, verschiedene Mathematikbücher, ein paar Hefte sowie ein neuer Liebesroman lagen da in einträchtigem Durcheinander.
„Also erzähl, was ist los?«, fragte Ali, als sie saßen und der Kaffee eingeschenkt war.
„Hat Veronika nichts gesagt?«
Ali schüttelte den Kopf. „Sie hat nur über das anstehende Diktat gemault.«
„Ein Kind meiner Klasse wurde von einem Jugendlichen vergewaltigt. Das Mädchen kommt am Montag wieder zur Schule, und ich musste natürlich die Mitschüler darauf vorbereiten, dass sie sich ihr gegenüber anständig benehmen. Das soll heißen, sie nicht auf die übliche Weise zu ärgern oder auszufragen, wie das denn alles war. Das Gespräch war verdammt nicht einfach. Da gibt es ein oder zwei frühreife Früchtchen, denen ich durchaus zutraue, über kurz oder lang in ähnlicher Weise aktiv zu werden. Die haben ein völlig schiefes Bild von der Realität. Ich mein, Sprüche wie ›die Tussen wollens nicht anders‹, die stammen doch nicht von den Kindern, das haben sie zuhause gehört und auf der Straße, und in der Schule wird dieser Blödsinn ganz stolz nachgeplappert. Mein Gott, ich möchte nicht wissen, was da in manchen Familien abgeht. Der Täter ist vierzehn, ein halbes Kind noch, kommt aus guter Familie, scheinbar guter Familie, sollte ich wohl besser sagen. Ich verstehe das nicht.« Helga schüttelte den Kopf und blickte aus dem Fenster, ohne jedoch etwas zu sehen. Und das lag nicht an der ausladenden Grünpflanze, die einen Großteil der Fensterbank in Anspruch nahm. Ali fand keine Antwort. Erst nach einer ganzen Weile fuhr die Lehrerin fort: „Die Mutter tut mir ebenso Leid wie das Kind. Sie steht der Sache hilflos gegenüber. Ich habe fast eine Stunde mit ihr telefoniert. Und zu allem Übel hat Elli mir noch die 2c von Andrea aufgehalst.« Sie stöhnte. „Allein aus dem Grund müssen wir schnellstens Andreas Unschuld beweisen. Ich habe keinen Nerv, mich mit der Truppe auch noch rumzuschlagen.«
„O je, das ist hart!«
Durch Helga hatte Ali inzwischen genug vom Schulalltag mitbekommen, um zu wissen, was es bedeutet, zwei Klassen gleichzeitig zu führen. „Gab es denn keinen anderen, der das hätte übernehmen können?«
Helga zuckte die Schultern. „Mein Stundenplan war am einfachsten zu ändern. Und einer Teilzeitkraft kann man nun wirklich keine zwei Klassen zumuten. Ich sehe es ja ein, aber trotzdem ...«
„Scheiße!«
„Das isses!«
In gemeinsamem, einträchtigem Schweigen genossen sie den Kaffee, der heute besonders stark geworden war und dachten über Andrea Michalsen nach.
„Was mir ...«
„Du musst ...« Beide begannen gleichzeitig, lachten und einigten sich nach einigem hin und her, wer denn nun anfangen sollte.
„Also«, begann Ali. „Der Kerl ist einfach zu gut, um wahr zu sein. Ich habe mich heute in der Nachbarschaft umgehört. Eine Lobeshymne nach der anderen, als hätte er nie einen Fehler begangen. Selbst Patienten, denen er nicht helfen konnte, sind des Lobes voll. Da kann etwas nicht stimmen. Kein Mensch ist so vollkommen. Das sagen mir meine vielfältigen Erfahrungen und meine Menschenkenntnis.«
„Ich weiß nur von der Finkamp, dass die Hellwitz was mit dem Doktor gehabt haben soll. Aber das kann genauso gut das dumme Geplapper einer neidischen Kollegin sein.«
„Wenigstens ein Ansatz. Es ist bisher der einzige ... das heißt, falls wir nicht herausbekommen, wer die Frau war, die dem Doktor gedroht hat.«
„Wie verlässlich ist die Aussage?«
„Ich kenne die Nachbarin recht gut, sie gehört nicht zu den üblichen Tratschtanten. Wenn sie sagt, es ging um den Doktor und nicht um den Ehemann, dann glaube ich ihr das. Sie besitzt eine hervorragende Beobachtungsgabe, was ihre scharfzüngigen Bemerkungen beweisen. Außerdem hat sie die Patientin genau beschrieben. Nur – was nützt uns das? Die Frau muss ja nicht einmal hier aus der Gegend sein.«
„Ich sehe bloß eine Möglichkeit, wir müssen einen Blick in den Terminkalender werfen. Dabei fällt mir ein, warst du im Krankenhaus? Du wolltest doch nach ihren Sachen schauen?«
„Klar war ich da. Aber zu spät. Die Polizei hat alles beschlagnahmt. Hat Klaus sich inzwischen gemeldet?«
„Nichts. Nicht mal ein Anruf von unterwegs über Handy.« Helga versuchte ein Lächeln, das recht kläglich
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