Renner & Kersting 03 - Mordsgier
La Giara, in der Rathausstraße, kennen Sie es?« Kersting nickte. Ein Restaurant mit großen Fenstern, sodass die vorbeigehenden Fußgänger den Gästen direkt auf die Teller sahen.
»Wir feierten unser Dreijähriges und waren an dem Abend ausnahmsweise einmal nicht so diskret.« Ein schmerzliches Lächeln überzog ihr Gesicht.
Auf dem Tisch hatten Kerzen in hohen Leuchtern gestanden, Kristallgläser glitzerten im Schein des warmen Lichts. In Rufus Augen loderte Begierde. Christina wusste genau, wie der Abend enden würde und war glücklich. Sie badete im süßen Seim seiner Komplimente, warf ihm einen verführerischen Blick zu und genoss das Spiel seiner Füße unter dem Tisch. ›Wollen wir in den Ferien zum Bodensee? Eine Woche oder so? Du weißt, ich muss rechtzeitig meinen Urlaub einreichen, auch wenn er im Herbst eher genehmigt wird als im Sommer.‹
›Leider wird das nicht gehen. Es gibt da eine Fortbildung, die ich gern besuchen würde.‹
›Oh, wir werden uns auch fortbilden.‹ Sie lachte spitzbübisch. ›Wir könnten nach Bregenz zur Operngala. Das ist doch Bildung genug, oder nicht?‹
Als sie kurz zur Seite blickte, sah sie eine Frau dicht vor dem Fenster stehen und hineinstarren. Es war gerade noch hell genug, um deren Gesichtszüge zu erkennen. Vor längerer Zeit hatte sie mal ein Foto von Rufus’ Frau gesehen und war deshalb ganz sicher, dass es sich nur um diese handeln konnte. Demonstrativ strahlte sie Rufus an, streichelte zärtlich seine Hand, die er aufnahm und mit Küssen bedeckte.
›Wenn du mich so anschaust mein Liebling, kann ich dir nichts abschlagen. Also gut, beantrage deinen Urlaub. Und Daniela werde ich von der Lehrerfortbildung erzählen.‹ Noch immer hielt er ihre Hand mit der seinen umfasst. Säßen sie nicht in einem Restaurant, er hätte sie an sich gerissen. Blickrichtung und Körperhaltung waren eindeutig. Wieder schaute Christina zum Fenster. Die Beobachterin war verschwunden.
»Oh ja«, murmelte sie, in Erinnerung versunken. »Seine Frau wusste, dass er mich liebte.«
»Dann wäre eine Scheidung doch nur natürlich gewesen?« Kersting endete mit fragend erhobener Stimme.
»Im Prinzip schon, aber sie hat sehr viel für ihn getan. Sie hat ihr Studium aufgegeben und wieder in ihrem alten Beruf gearbeitet, damit er seines beenden konnte. Als es dann soweit war, hat sie aufgehört zu arbeiten. Sie war nur noch Hausfrau und für ihn da. Kinder gibt es nicht. Keine Ahnung, ob sie nicht wollten oder nicht konnten. Jedenfalls saß sie den ganzen Tag zuhause rum und spielte feine Dame. Hat auf dem Standesamt promoviert, wenn Sie verstehen ... Ich begreife nicht, wie man so ein Leben aushalten kann. Keine eigene Aufgabe zu haben! Nicht einmal putzen brauchte sie. Alles drehte sich nur um ihn. Anscheinend war sein Wort ihr Gesetz. Sie hat ihn vergöttert und geklammert. Glaubte, weil sie sein Studium finanziert hatte, Ansprüche geltend machen zu dürfen. Sie war ihm lästig, er empfand nur noch Mitleid. Deshalb hat er sich noch nicht scheiden lassen. Aber ich bitte Sie, Mitleid ist doch keine Basis für eine Ehe. Nur weil sie keine eigenen Freunde, kein eigenes Leben und keine eigenen Interessen besaß, war er noch bei ihr. – So jedenfalls hat er es mir erzählt.«
Kersting dachte an die elegante, schwarzgekleidete Frau, die ihn mit einem Taschentuch in der Hand empfangen hatte. Ihre Trauer war ihm aufgesetzt und übertrieben erschienen. Wie passte das zur Aussage der Zils, dass sie sich an ihren Mann geklammert hatte? Ob sie aus Angst vor Einsamkeit bei ihm geblieben war? Oder weil er ihr das Leben bot, das ihr standesgemäß erschien? Darüber würde er noch ein bisschen nachdenken müssen. Dass die Verhältnisse nicht so einfach lagen wie sie auf den ersten Blick schienen, war ihm schnell klar geworden.
8
Während der dritten Stunde wanderte Helga durch die Schule. Ihr, die sie maximal dreizügige Grundschulen gewöhnt war, erschien das Gebäude riesig und unübersichtlich. Nach kurzem Drängen hatte Elli nachgegeben und versprochen, auch ihre Klasse im Blick zu behalten. Heute war ein günstiger Tag, weil André fehlte, ein Schüler, der regelmäßig die Klasse aufmischte, massiv störte und seine Nachbarn ärgerte. Gestern hatte er eine Mettwurst mitgebracht und damit seinen obszönen Gedanken äußerst anschaulich Ausdruck verliehen. Die Klasse hatte getobt. Insgeheim hoffte Helga, dass er länger fehlen würde. Doch sie wusste, dass Kinder, um die sich kaum
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