Renner & Kersting 03 - Mordsgier
leichtes Nicken und weg war er.
Ein seltsamer Typ. Aber viele Lehrer besaßen die eine oder andere Macke, Studienräte ebenso wie Grundschullehrer, überlegte Helga, während sie langsam in den Keller zurückging. Schon von Weitem hörte sie ihre Klasse brüllen. Sie lief schneller. Elli stand mitten im Raum und versuchte vergeblich, einigermaßen Ordnung zu halten. »Gut, dass du endlich da bist. Wo warst du so lange?« Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte sie in ihre Klasse, die nur wenig leiser war. Nachdem Helga vier Stapel Yu-Gi-Oh-Karten, mehrere Scoubidou-Bänder, fünf Plastikmonster und zwei Barbiepuppen konfisziert hatte, trat allmählich Ruhe ein.
»Frau Renner, Faisal war bei den Großen auf’m Schulhof.«
»Weil du mich immer getreten und Hurensohn gesagt hast.«
»Und du hast ein Messer mit.«
»Hab’ ich gar nicht.« In seinen Augen stand ein triumphierendes Leuchten.
Helga kannte das. »Her damit!«, befahl sie streng und ging mit auffordernd ausgestreckter Hand auf Faisal zu. Es dauerte eine Weile, bis der Junge sich bereit erklärte, das Messer abzugeben. Schließlich gehörte es seinem älteren Bruder, der es ihm nur geliehen hatte, damit er sich gegen die Großen in der Schule verteidigen konnte. Helga betrachtete es mit Abscheu. Inzwischen kannte sie sich aus, ein Butterflymesser. Nicht ungefährlich und außerdem verboten. Falls sie es zurückgeben würde, dann nur an den Vater des Jungen. Vielleicht wäre das Ding aber auch besser bei der Polizei aufgehoben. Sie musste sich einmal erkundigen. Während dieser Überlegungen hatte die Lautstärke wieder zugenommen, und das Petzen ging weiter.
»Daniel hat mit Steinen nach den Großen geworfen.«
»Aber nur, weil Niklas von einem Gymi verprügelt wurde. Gucken Sie mal, der blutet aus der Nase. Mein Papa hat gesagt, wenn die Großen mich ärgern, dann kommt er und hilft mir.«
Helga konnte sich gut vorstellen, wie die Hilfe aussehen würde. Aber zuerst musste Niklas versorgt werden. Anschließend beruhigte sie die anderen, so gut es ging. Derartige Übergriffe gab es jeden Tag, und natürlich lag die Schuld bei den Grundschullehrern, die es nicht schafften, ihre Schüler auf dem ihnen zugewiesenen Teil des Schulhofes zu halten. Nach den ersten Versuchen einer Streitschlichtung hatten die drei Kolleginnen es aufgegeben, mit den älteren Schülern oder den Kollegen zu reden. Manchmal wurden die Vorurteile, die Helga in Bezug auf ihre Gymnasialkollegen besaß, doch in jeder Hinsicht verifiziert. Ausnahmen bestätigen die Regel, dachte sie, als ihr die Meeren einfiel, eine der wenigen wirklich netten Frauen im Kollegium. Sie hatte ihnen zu Anfang sehr geholfen, denn natürlich brauchten sie die Einrichtungen der Schule, da sie nur das Notwendigste hatten mitnehmen dürfen. Die Räume waren so klein, dass weder Bastelmaterial noch Bücher untergebracht werden konnten. Ein winziges Regal für die Sachen von achtundzwanzig Kindern und keine Möglichkeit, Störenfriede allein an einen Tisch zu setzen. So allmählich lagen ihre Nerven blank. Und der Umzug verschob sich von einer Woche zur nächsten. Sie brauchte dringend Ablenkung. Eigentlich noch mehr als Ali. Also sollte sie sich eine sinnvolle Arbeit suchen, die sie ausfüllte, die Spaß machte und ihre Gedanken von der Schule fern hielt, sodass sie sich wenigstens psychisch etwas erholen konnte.
Nachdem sie ein weiteres Donnerwetter losgelassen hatte, wurde es wieder ruhiger. Jetzt, kurz vor den Zeugnissen, die für den Übergang zur weiterführenden Schule entscheidend waren, konnte sie mithilfe der Zensuren ein wenig Druck ausüben. Normalerweise waren Noten den meisten Schülern ziemlich gleichgültig. Die Eltern bekundeten an den Sprechtagen zwar Interesse, doch das schien schnell wieder abzuflauen. Auf Briefe wurde gar nicht reagiert und bei Anrufen hieß es regelmäßig: ›Ich sach dat dem Kind.‹ Falls die Zusage überhaupt eingehalten wurde, nutzte es nichts. Rein theoretisch wäre es ihr lieber, die Kinder würden ohne Druck lernen. Aber praktisch blieb ihr häufig keine andere Möglichkeit als die der Erpressung.
Nach der sechsten Stunde fühlte sie sich wieder einmal total erledigt. Zum Schluss hatte sie nur noch geschimpft und einigen wenigen, die ihre Arbeiten beendet hatten, keine Hausaufgaben aufgegeben. Sobald es schellte, jagte sie die Kinder hinaus.
Veronika trödelte auffallend. Als alle anderen den Raum verlassen hatten, kam sie auf die Lehrerin zu. »Franziska sagt,
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