Renner & Kersting 03 - Mordsgier
jemand kümmerte, die den größten Teil ihrer Freizeit auf der Straße zubrachten, körperlich robust waren und selten wegen Krankheit daheim blieben. Jedenfalls wollte sie die gute Gelegenheit nutzen, sich ein wenig umzutun.
Hinter manchen Türen ging es arg laut zu. Bis dato hatte sie geglaubt, der Unterricht an einem Gymnasium sei angenehmer als an einer Grundschule, an der den Schülern Leistung und Zensuren gleichgültig waren und sie oft das Gefühl hatte, den Kindern gegen ihren Willen etwas beibringen zu müssen. Aber nach dem Geschrei diverser Kollegen zu urteilen, schien dem nicht so zu sein – wie sie etwas schadenfroh bemerkte. Auf den langen Fluren herrschte reger Betrieb. Kinder auf dem Weg zur Toilette, Jugendliche, die offensichtlich eine Freistunde genossen, da sie ihr in Gruppen entgegenkamen, der Hausmeister, ein Fotograf, angeblich auf der Suche nach den fünften Klassen – Helga fragte sich, was er dann im Lehrerzimmer wollte -, Unbekannte, die forschen Schritts an ihr vorübereilten, vielleicht Verlagsvertreter oder Handwerker. Helga wusste es nicht. Sie stellte nur fest, wie einfach es war, in die Schule zu gelangen und sich dort zu bewegen. Ein unbemerkter Aufenthalt im Lehrerzimmer gestaltete sich dagegen schon schwieriger. Es hielten sich meist ein paar Kollegen dort auf, die eine freie Stunde hatten. Aber falls der Täter sehr früh gekommen war, hätte er sich auch dort unauffällig zu schaffen machen können. Vielleicht sollte man ein Plakat aufhängen, wer unbekannte Personen am fraglichen Morgen im Gebäude gesehen hat, überlegte sie. Aber wem konnte sie diesen Vorschlag unterbreiten? Dem arroganten Hohlberg gewiss nicht. Er gestand den Grundschulkollegen nur ein Mindestmaß an Intelligenz zu und würde sicher nicht auf sie hören. Aber die Meeren hatte sich freundlich und entgegenkommend gezeigt. Mit ihr könnte sie darüber reden. Mit aller gebotenen Vorsicht natürlich. Niemand durfte ahnen, dass sie mehr trieb als reine Neugier und der Wunsch zu helfen. Auf dem Rückweg wäre sie beinahe mit Thode zusammengeprallt. Unter dem Arm hielt er einen Packen Kopierpapier. »Was machen Sie denn hier?«, fragte er wenig höflich.
»Ich brauche dringend Kopien. Dummerweise habe ich genau entsprechend der Anzahl der Schüler kopiert. Aber natürlich haben einige ihre Arbeitsblätter sofort zerknüllt und zerrissen und weigern sich jetzt, damit zu arbeiten. Ich hatte gehofft, die Sekretärin würde mir ausnahmsweise schnell zwei Kopien anfertigen.« Demonstrativ hielt sie ein Arbeitsblatt hoch, das sie in weiser Vorausschau mitgenommen hatte.
An dieser Schule war anscheinend alles bis ins Letzte reglementiert. Wer etwas kopiert haben wollte, musste dem Hausmeister die Vorlagen zwei Tage vorher reinreichen. Der Kopierer gehörte angeblich zu den besten und empfindlichsten seiner Generation, und nur dem Hausmeister und der Sekretärin war die Benutzung gestattet. Falls die Angst vor Reparaturen tatsächlich der Grund war. Vermutlich musste das Gymnasium wie auch alle anderen Schulen sparen und versuchte auf diese Weise Papier-und Tonerverbrauch einzudämmen.
Thode grinste. »So nachlässig dürfen wir hier nicht arbeiten. Stellen Sie sich das Chaos vor, wenn jeder zu jeder Zeit kopieren wollte. In so einem riesigen Betrieb muss man nun mal Rücksicht nehmen. Für Sie ist das natürlich eine große Umstellung.« Dabei schaute er sie so demonstrativ mitleidig an, dass Helga ihm seine Anteilnahme nicht abnahm. Etwas Gieriges lag in seinem Blick, das sie hätte rot werden lassen, wenn da nicht auch eine Spur von Unsicherheit gewesen wäre, ein leichtes Flackern, ein Ausweichen, als sie ihn ihrerseits musterte. Was tat er hier um diese Zeit? Wenn sie jemanden mochte, fiel es ihr schwer, den Betreffenden auszufragen. Bei Thode hatte sie damit keine Probleme. »Haben Sie keinen Unterricht oder ist Ihre Klasse so pflegeleicht, dass Sie die Kinder problemlos allein lassen können?« Natürlich begab sie sich damit auf dünnes Eis, doch falls er die gleiche Frage stellen sollte, würde ihr etwas einfallen. Immerhin hatten die meisten von Grundschularbeit keine Ahnung. Eine leichte Röte breitete sich aus, Zeugnis seiner Verlegenheit. »Nein, nein, ich brauchte rasch ein paar Blätter für die Zeichnungen der Schüler. Viel zu viele vergessen immer wieder ihren Zeichenblock. Den Weg zum Sekretariat kennen Sie, nehme ich an? Ich habe zu arbeiten.« Eine deutliche Betonung auf dem ›Ich‹, ein
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