Renner & Kersting 03 - Mordsgier
morgen Konferenz im Gebäude der Hauptschule war. Ohne diese Erinnerung hätten sie es alle drei verschwitzt. In der Pause hatte sie wieder einmal versucht, Elli zu überreden, ihren Sportunterricht zu übernehmen, da sie sich in dem Fach unsicher fühlte. Die hatte mit der Begründung abgelehnt, sie sei ebenso wenig ausgebildet und unterrichte fachfremd, dann müsste Helga das auch können. Ob bei der Entscheidung wohl der Ärger mitgespielt hatte, den Elli über ihre Aufenthalte im Lehrerzimmer verspürte? Und die Aufsichten, die Helga versäumt hatte?
Sie war erst gegen 14.15 Uhr daheim gewesen, sodass sie gerade noch eine Schnitte Brot essen und einen Tee trinken konnte, dann hatte sie schon wieder losfahren müssen, um Käthe abzuholen.
Jedenfalls, über all der Hektik hatte sie den Anruf bei Anna vergessen. Etwas, das auch nicht wieder gut gemacht werden konnte. Unbewusst musste sie wohl schneller geworden sein, denn Käthe meinte plötzlich: »So eilig haben wir es doch nicht, oder doch?«
Helga schüttelte den Kopf und nahm den Fuß vom Gas. Da war auch schon die Autobahnausfahrt. Zuerst musste sie Käthe absetzen, anschließend gleich zu Anna weiterfahren. Wie immer wenn sie es eilig hatte, schalteten alle Ampeln auf Rot sobald sie sich näherte, Fußgänger blockierten die Überwege, wenn sie abbiegen wollte und irgendein Idiot vor ihr wusste offenbar nicht wohin, denn er bremste abrupt und schlich anschließend mit knapp vierzig über die Feithstraße. Dieses Mal schimpfte Helga laut. Ohne auf ihr Angebot von vorhin zurückzukommen, entließ sie Käthe erleichtert vor dem Tor zu Kerstings Villa und versprach, beim Umzug zu helfen. Dann brauste sie nach Hengstey. Sie fühlte sich schrecklich unwohl, zum einen, weil sie ihr Versprechen gebrochen hatte, schließlich wusste sie genau, in welchem Zustand Anna sich befand, zum anderen quälte sie die Angst, dass Anna womöglich doch etwas Dummes getan hatte. Sie überfuhr eine rote Ampel, ging mit quietschenden Bremsen in die Kurve und hoffte nur, dass nirgendwo geblitzt wurde. Natürlich sagte ihr der Verstand, dass die Minuten wenn nicht gar Sekunden, die sie durch ihre Raserei herausholte, nutzlos waren, falls Anna tatsächlich ... Sie mochte den Gedanken nicht zu Ende denken. Die Schuld würde sie nicht ertragen können. Noch eine enge Kurve und sie war da. Hinter den Fenstern schimmerte Licht. Eine ganze Minute saß sie unbeweglich im Auto, um ihrer Erleichterung Herr zu werden.
»Schön, dass du gekommen bist.« Annas Begrüßung klang unverbindlich.
»Es tut mir so leid, dass ich es heute Mittag nicht geschafft habe. In der Schule ging es mal wieder drunter und drüber und dann hatte ich Klaus versprochen ...« Sie brach ab. Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer. Eine ausgebreitete Decke auf dem Sofa zeigte, dass Anna dort gelegen und zumindest zeitweise geschlafen hatte. »Wie geht es dir? Sag’ ehrlich«, bat Helga.
»Nicht gut, natürlich nicht gut. Aber ich werde es schaffen. Irgendwie.«
»Soll ich uns einen Tee machen? Dabei spricht es sich besser.«
»Warum nicht?« Sie folgte Helga langsam in die Küche. Manchmal bewegte sie vorsichtig die Schultern oder stützte sich an den Möbeln ab. Helga wusste noch, wo sie Teebeutel und Kanne finden würde und hantierte schnell und geschickt.
»Hat die Polizei was gesagt?«
Anna schüttelte den Kopf. »Sie gehen von einem Unfall aus. Mir gegenüber und aus Höflichkeit. In Wirklichkeit meinen sie Selbstmord, da bin ich sicher. Der Beamte, der hier war, war sehr nett, nannte das Ganze einen bedauerlichen Vorfall, der sich bei diesem Wetter aber ereignen könnte. Dann sprach er über den Unfall auf Gran Canaria. Von den Nachbarn hatte er erfahren, dass Dieter unter Schlaflosigkeit litt, weil er die Bilder nicht verdrängen konnte. Na ja, damit ist für die Polizei die Sache klar. Dabei hätte Dieter sich niemals selbst etwas angetan. Das ist ausgeschlossen! Wir haben uns verändert nach dieser Erfahrung, das stimmt schon. Aber zum Positiven! Wir sind neugieriger und aufgeschlossener geworden. Wir haben uns Bücher geholt über Nahtod-Erfahrungen und Wiedergeburt und so. Dieter wollte eine Therapie beginnen, um sein Trauma loszuwerden. Es war alles in Ordnung, zwischen uns gab es keine Geheimnisse.«
»Wie kam er nur auf die Idee, bei diesem Wetter am Ufer entlang zu spazieren?«
»Er liebte frisch gefallenen Schnee, und den Weg ging er fast jeden Tag. Außerdem ist der so breit, dass im Sommer
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